Abhängigkeiten, Unabhängigkeiten

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Hinter der Eingangstür zum neuen Standort des Sound-Equipment-Herstellers, tut sich eine Welt auf, die mir auf Anhieb nicht geheuer ist. Ich kann noch nicht einmal festmachen, woran es genau liegt, allerdings muss ich gestehen, dass Promo-Events noch nie mein Ding gewesen sind. Obwohl das Musik-Biz seit Jahren über meine materiellen Lebensumstände bestimmt, von Praktika und Gelegenheitsjobs in der Vergangenheit, bishin zu meiner heutigen Ausbildung ... Mir ist natürlich klar, dass gute Werbung hier, genauso wie in jeder anderen Branche, die Verkaufszahlen in die Höhe treibt. Aber bevor ich mit Künstlern zusammengearbeitet habe, bin ich nun mal mit ihnen befreundet gewesen. Promo hat für mich immer etwas Seelenloses, aber einige Musiker hängen sich deswegen richtig rein. Luks Eigenwerbung ist fast immer so aufwändig gestaltet, dass es sich dabei oft um ein zweites Kunstwerk handelt. Songs, in denen er sein Album oder seinen Merch anpreist, sind bei ihm keine Seltenheit. Und so entsteht etwas ganz Eigenartiges, etwas zwischen Kunst und kapitalistischer Notwendigkeit. Ich mustere meinen Freund neugierig von der Seite. Er ist nicht für seine hohen Verkaufszahlen bekannt, und inzwischen glaube ich, dass ist etwas, das mich anzieht. Ich stehe nicht auf Ruhm, aber Tua hat alles andere, was ich auch an meinen Freunden so mag. Er legt Herz und Verstand in seine Musik, und er würde seine Leidenschaft nie aufgeben, selbst wenn der Markt sich mal so entwickeln sollte, dass sein ohnehin schon unsicheres Gehalt auf einen Hungerlohn schrumpft.
Peggy bemerkt uns sofort. Sie bedeutet uns dazuzustoßen und ich stelle fest: Ihr Gesicht ist nicht das einzige, das mir bekannt vorkommt. Neben Tuas Mangerin steht zu meiner großen Freude Wanja. Mein Freund greift nach meiner Hand und führt mich zu ihnen rüber in die hintere Hälfte des Raumes.
"Hey", begrüßt Peggy ihn als Erste. Sie umarmt ihn und drückt auch mich kurz an sich. "Iara, freut mich, dich zu sehen."
"Mich auch", sage ich lächlend. "Hi", wende ich mich an Wanja, um sie ebenfalls zu begrüßen. "Du hier?" Sie grinst.
"Cool, oder? Ein Freund von mir arbeitet für Sennheiser."
"Ach, krass", kommentiere ich.
"Iara", spricht Peggy mich wieder an. "Vielleicht wollt ihr euch am Buffet schon mal was zu essen holen. Ich sorge rasch dafür, dass er ein paar Hände schüttelt."
"Du könntest genauso gut mitkommen", wirft Tua ein.
"Nö", gebe ich zurück. "Langweilen darfst du dich schön allein." Ich küsse ihn auf die Wange und er seufzt gespielt theatralisch.
"Na ja, den Versuch war's wert."
"Ich besorge dir auch was zu essen", verspreche ich und drehe mich noch ein letztes Mal in Peggys Richtung. "Wir finden uns, oder?"
"Jap, alles kein Problem, wir kommen zu euch." Wanja hakt sich derweil bei mir unter.
"Na, los", fordert sie mich auf und wir begeben uns zur Kochecke, die offenbar eigens für die Veranstaltung heute in einem der hinteren Räume eingerichtet wurde. Die Burger werden auf Wunsch frisch zubereitet, das Ganze dauert also einen kleinen Moment. Wanja und ich stellen uns an, schnappen uns je ein Glas hausgemachte Limetten-Limo vom Tablett eines gutaussehenden jungen Kellners und stoßen an.
"Auf den Abend", bringt sie einen Toast aus, in den ich einstimme.
"Auf den Abend."
Wir trinken beide einen Schluck, dann sieht sie mir prüfend in die Augen.
"Du siehst wirklich hübsch aus", meint sie.
"Danke, das kann ich nur zurückgeben", erwidere ich. Wanja trägt einen knallroten Crop-Strickpullover, sportliche Hosen und ein Paar limitierte Sneakers.
"Wie geht's dir?", fragt sie mich. Ihr Blick lastet nach wie vor ernst auf mir. Lügen, um den sozialen Frieden zu wahren, ist da keine Option.
"Ich würde gern 'gut' sagen", antworte ich deshalb.
"Ja, das merkt man dir an. Ich habe Tua vor einigen Tage dasselbe gefragt, und er hat ähnlich geantwortet wie du."
"Sprecht ihr regelmäßig?", frage ich sie interessiert, doch sie schüttelt den Kopf.
"Eigentlich hat er angerufen und mich gebeten, spontan noch etwas für ihn einzusingen. Er schmeißt Tracks umher, den einen rein, dafür den andern wieder raus. Inzwischen scheint er aber etwas zur Ruhe gekommen zu sein. Ich hoffe, seine Launen haben sich nicht auf dich übertragen." Ich schüttle den Kopf.
"Nein. Er durchleidet gerade eine sehr schwere Phase und das wirkt sich auf unsere Beziehung aus. Mich macht besonders eine Sache fertig. Ich wollte nie die Art von Frau sein, die sich von ihrem Mann abhängig macht, aber mir wird immer klarer, dass das längst passiert ist; dass ich mich passiv für diesen Weg entschieden habe."
"Ich verstehe dich", sagt Wanja leise.
"Hast du sowas schon mal erlebt?", frage ich sie und sie atmet tief ein.
"Habe ich tatsächlich", gesteht sie. "Ich war sechs Jahre lang in einer toxischen Beziehung. Drei davon habe ich mit meinem Ex-Freund zusammengewohnt. Das war keine schöne Zeit." Anstatt etwas zu erwidern, nehme ich sie bloß in den Arm.
"Wenn es nur Schmerz und keine Liebe wäre, hätte ich längst mit ihm Schluss gemacht", murmle ich irgendwann. "Aber immer, wenn ich bei ihm bin, fühle ich mich sicher. Ich glaube, ich sage ihm das viel zu selten."
"Deswegen fühlst du dich aber auch so abhängig. Was ist, wenn Tua nicht da ist? Wann fühlst du dich sonst noch sicher im Leben?"
"Das ist eine sehr gute Frage", sage ich. "Darüber sollte ich wohl nachdenken, aus dem Stehgreif fällt mir jedenfalls keine Antwort ein."
"Ja, dann denk drüber nach." Jemand klopft mir unvermittelt auf die Schulter. Als ich zu der Person herumfahre, stelle ich fest, dass es sich um meinen Freund handelt.
"Wie hungrig bist du?", fragt er mich.
"Äh, geht so", meine ich. "Wieso?" Er strahlt.
"Komm mit, ich muss dir was zeigen."

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt