Auf dem Bildschirm erscheint ein PDF-Dokument, dem Datum in der oberen rechten Ecke nach zu schließen, erst heute frisch versandt. "Buchungsbestätigung", lese ich die Überschrift laut vor. "Sehr geehrter Herr Bruhns, außerhalb der Saison stehen im Winter alle vier Bungalows frei ... Was ist das?"
Tua grinst, dann liest er weiter vor. "Hiermit bestätigen wir Ihre Anfrage für einen Urlaubsaufenthalt vom 11. bis zum 18. Dezember. Ückeritz wird Ihre Begleitung und Sie mit Freuden willkommen heißen. Zum Check-In um 14 Uhr erwarte ich Sie persönlich vor Ort auf dem Grundstück. Beste Grüße, Annemarie Weiler." Tua strahlt übers ganze Gesicht; er freut sich wie ein kleines Kind. "Ich habe tatsächlich genau das Haus bekommen, in dem meine Eltern und ich gewohnt haben, als ich noch jünger war und wir zusammen in den Ferien ans Meer gefahren sind."
Verwirrt plumpse ich auf seinen Schoß. "Du hast das gebucht?"
"Klar", meint er. Eine kleine Falte bildet sich zwischen seinen Brauen. "Hey, ich dachte, du freust dich", sieht er mich aus großen, fragenden Augen an. Immer noch wirkt er wie ein unbescholtener Junge auf mich. Meist stellt das kein Problem für mich dar, wieso sollte es? Ich kann oft ebenso kindisch sein und eigentlich ist es auch gar nicht so schlecht, wenn wir gleichzeitig kindisch sind, man bedenke unseren zehnjährigen Altersunterschied. Dass er allerdings ohne meine Zusage abzuwarten eine Reise bucht, geht mir dann doch zu weit.
"Sekunde mal." Ich schüttle leicht verärgert den Kopf. "Du hast mir nix davon gesagt, Tua."
"Wovon?"
"Du hast unseren Urlaub gebucht, ohne das vorher mit mir abzusprechen", präzisiere ich.
Er küsst unbeirrt mein Schlüsselbein. "Mein Gott, bist du deswegen sauer?", will er mich piesacken.
"Dein Ernst?", hake ich nach. "Findest du das so abwegig, dass ich sauer sein könnte?"
Tua schnalzt genervt mit der Zunge. "Iara, komm schon. Das war keine böse Absicht. Es sollte eine Überraschung sein."
"Glaubst du, ich sage immer ja und Amen zu allem, was du tust?"
"Nein", antwortet er harsch. Ein Wort nur und seine Reife ist zurückgekehrt. "Sonst wäre ich ein Idiot, denn du regst dich prinzipiell über Kleinigkeiten auf und ich weiß das -" Verächtlich lache ich auf. War ja klar, dass er den Besserwisser spielen und sich über mich stellen würde. Der kann was erleben! "Du -"
"Ich weiß das, weil ich genauso hochgehe wie 'ne Wasserstoffbombe, wenn ich mal nicht die Kontrolle über etwas habe", beendet er seinen Satz und ich halte perplex inne.
Tua ist mir offenbar nicht böse. "Was?", feixt er sogar leichtsinnig. "Du siehst aus wie ein Reh, das geblendet wird vom Scheinwerferlicht des heranrasenden PKWs."
Doch in meinem Kopf kreist nur die immer selbe Frage: Bin ich jetzt der schlimmere Kontrollfreak von uns beiden?
"Iara", bewegt er seine Hand vor meinem Gesicht auf und ab. Ein amüsiertes Lächeln umspielt seine Lippen. Unsere frappierende, charakterliche Ähnlichkeit verblüfft mich stets aufs Neue.
Verärgert reagiere ich, indem ich seine Hand wegschlage. Doch die Luft ist raus aus unserem Beinahe-Streit. Ich bin nicht wütend.
"Sind wir cool miteinander?", vergewissert er sich unseres Waffenstillstands.
"Ja, sind wir", küsse ich ihn versöhnlich auf die Wange.
"Freust du dich, dass die Reise steht?", wackelt er mit den Augenbrauen.
"Du Idiot", lache ich. "Natürlich freue ich mich."
Stolz klopft er sich selbst auf die Schulter. Gemeinsam sinken unsere Körper eng umschlungen in die Matratze. Als Tuas Blick mich trifft, murmelt er sanft: "Hätte ich das dir überlassen, hätten wir die Reise nie gemacht."
"Tua ...", geniere ich mich, etwas zu erwidern.
"Sei ehrlich."
Seufzend drehe ich mich auf den Rücken, sodass ich ihn nicht anschauen muss. Er verzieht selten eine Miene und deswegen ist es vermutlich egal, wie ich mich drehe und wende, ich werde sowieso keine besonders aussagekräftige Reaktion von ihm bekommen, aber ich habe trotzdem Angst davor, dass ihm die Emotionen ins Gesicht geschrieben stehen könnten; Angst davor, dass mir Schmerz, Enttäuschung oder Wut in riesigen Neonbuchstaben entgegen blinken werden. "An die Ostsee zu fahren war deine Idee", sage ich und atme tief durch. "In meinem Leben passiert gerade eine Menge, die Ausbildung ist ein Albtraum. Selbst Kris erzählt mir inzwischen jeden Tag, wie unentbehrlich ich für Universal geworden bin. Sie sagt, die Anstrengungen, die ich auf mich nehme, reichen für drei Leute und ich soll nur durchhalten, dann würde ich garantiert übernommen."
"Lass dich nicht belügen." Er drückt mir seine Lippen auf die Schläfe und ich schließe erschöpft die Augen. Tua strahlt eine unglaubliche Wärme aus, es tut gut seine Nähe zu spüren. "Würde Kris dich ausbilden, wäre das, was sie dir erzählt, von Bedeutung." Seine Stimme wirkt besänftigend ... "Aber deine Ausbilderin ist Tina und wir wissen alle, dass sie Betty für die Übernahme favorisiert. Eventuell hat sie Kris sogar darum gebeten, dich bei Laune zu halten, weil sie es selbst nicht über sich bringt, damit du nicht vorzeitig aufhörst. In ihrer Statistik als leitende Ausbilderin haben sich in den letzten Jahren mehrere Abbrecher angesammelt. Verliert sie dich, verliert sie ihren Gehaltszuschuss, ihr Vorgesetzter wird ihr die finanziellen Privilegien entziehen. Darum versucht sie dich mit Zuckerbrot und Peitsche zu kriegen."
Brüsk schlage ich die Augen wieder auf. "Willst du mir sagen, ich bekomme nicht mal mehr echte Komplimente für meine Arbeit?" Tua stöhnt, doch ich richte mich unbeirrt auf. "Das wäre eine Katastrophe."
"Dein Job ist eine Katastrophe."
"Deiner auch!"
"Das sollte kein Angriff sein", drückt er mich wieder runter, halb auf mir liegend. "Allerdings hast du Recht, mein Job ist genauso schrecklich."
Das lässt mich aufhorchen. Da ist doch irgendwas im Argen. "Erzähl", fordere ich ihn auf.
"Sagen wir einfach, die Buchungsbestätigung war das Highlight meines Tages", brummt er, woraufhin ich ihn in den Hintern zwicke. So leicht kommt er mir nicht davon.
"Aua!", beschwert er sich. Absolut unnachgiebig und wortlos schaue ich weiter zu ihm auf.
"Ich war heute richtig unzufrieden mit mir; was ich produziert habe, klang wie die übelste Scheiße", packt er schließlich niedergeschmettert aus. "Erst habe ich drei Stunden am Stück alles dumm produziert, mich wie der King gefühlt, bis ich gemerkt habe, was für eine Ohrenbluten verursachende Wichse das war. Dann habe ich fünf Stunden versucht, es zu retten, dabei alles nur noch ekliger verstümmelt und am Ende war ich einfach nur froh, als die Bestätigung bei mir eingetrudelt ist und ich beschlossen habe, die Studiosession, wie es 'ne miese Bitch tun würde, abzubrechen und die Kacke zu lassen, wie sie ist, um mich auf den Weg zu dir zu machen."
"Und nun juckt es dich in den Fingern", füge ich seinem Bericht ein Fazit hinzu.
"So sieht's aus", rollt er von mir runter. Kurzerhand ergreife ich die Chance auf einen Positionswechsel und nehme auf seiner Körpermitte Platz. Von oben auf ihn herabschauend beuge ich mich frech über ihn. "Du könntest deine Finger anders einsetzen", reize ich ihn sanft.
"Iara", schiebt er mich ein Stück weiter runter auf seine Oberschenkel. "Ich liebe dich. Aber momentan wünsche ich mir nichts sehnlicher, als neben dir einzuschlafen, um diesen beschissenen Tag zu vergessen. Oder meine gesamte beschissene Existenz." Er zieht seine Beine weg, sodass ich auf das Bett darunter plumpse. Neugierig robbe ich an ihn heran und vergrabe meine Nase in der Kapuze seines Pullis. Tatsächlich trägt er den nämlich seit ein paar Tagen. Auffällig vielen. Er riecht nach der Pizza, die wir uns Donnerstag bestellt haben. Die Zedernholzduftnote seines Deos, die ich sonst immer als Allererstes wahrnehme, wird überlagert von Zigarettenrauch, der auf seiner Haut haftet und sich vermischt mit dem Eukalyptusgeruch der Creme, die er manchmal nach dem Boxen benutzt und die helfen soll, Muskelverspannungen zu lösen. "Lass uns baden", schlage ich vor. "Bastians Badewanne hat eine neue Whirlpool-Funktion. Ich verspreche dir, ich werde nix versuchen. Wir sitzen im warmen Wasser, reden und hören einander zu." Möglicherweise sende ich ein widersprüchliches Signal, indem ich an seinem Ohrläppchen knabbere. Natürlich tue ich das. Sofort schäme ich mich dafür. Mein Freund antwortet mit einem unzufriedenen Murren.
"Danach sieht die Welt gleich wieder anders aus", beteuere ich schwach.
"Ja, super simpel", meint er zynisch. "So ein Blödsinn", wirft er leiser, dafür aber fast aggressiv hinterher.
Doch Verzagen war noch nie mein Motto. "Okay, Mr. Brightside, ich bereite im Badezimmer alles vor", rapple ich mich auf. "Ich für meinen Teil werde baden und falls du hier übernachten möchtest, solltest du das auch. Denn dann, nach meinem entstressenden Bad, werde ich mein Bett neu beziehen und in meinem sauberen Bett lasse ich ausschließlich saubere Menschen schlafen."
"Schlafen?", krächzt er. "Was ist das?"
Also hat er wieder nächtelang durchgemacht. Besorgt beiße ich mir auf die Unterlippe.
"Guck nicht so."
"Du siehst nicht, wie ich gerade gucke", entgegne ich trotzig.
Er hebt den Kopf und mustert mich. "Jap, genau", vergräbt er sein Gesicht wieder im Kissen. "Guck nicht so", wiederholt er.
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Messias
RandomIara war schon mit vierzehn in der Rap-Szene unterwegs, hier mit der einen Band am Start, dort mit der anderen. Irgendwie kommt man nicht mehr raus aus diesem doch sehr speziellen Freundeskreis. Aber warum sollte man das auch wollen? Staffel 4 meine...