Einige Tage später lege ich eine Vollbremsung vor dem Gebäude hin, in dem unter anderem die Praxis von Tuas Psychotherapeuten untergebracht ist. Ich habe mir den Wagen meines Freunds für heute geliehen. Üblicherweise nehmen wir zusammen die Öffentlichen, aber Luks Tourneevorbereitung ist ein Zeitfresser, deswegen habe ich Tua in weiser Voraussicht seine Autoschlüssel entwendet. Am Morgen ist er selten in der Lage, bei sowas groß zu protestieren, und mir ist wichtig, dass ich mein Versprechen, ihn an den obligatorischen Montagen abzuholen, einhalte.
Es ist ein wahrer Segen, dass mein Mit-Azubi so verständnisvoll ist. Zum Glück konnte ich David überreden, sich um die noch ausstehenden Hotelbuchungen zu kümmern. Ab und an müssen Künstler in einem normalen Bett schlafen. Jede Nacht in der Buskoje zu pennen wäre auf Dauer unangenehm. Besonders für unseren Luki, der im letzten Jahr zu seinem eigenen Ärger einen empfindlichen Magen entwickelt hat. Nachts plagen ihn oft Bauchschmerzen und die beengte Heia macht es nicht besser. Ich denke, es liegt am Stress, den er sich mit der Musik oft macht. Aber er bestreitet diese Tatsache jedes Mal, wenn ich ihn wieder damit konfrontiere.
Abgelenkt wie ich von meinem Frust darüber war, habe ich nicht aufgepasst. Der Postbote, der gerade aus dem Lieferwagen steigt, den ich beinah gerammt hätte, marschiert mit hochrotem Kopf auf mich zu. Ich lasse seufzend das Fenster runter.
"Geht's noch?!", brüllt der Mann und ich lehne mich in meinem Ledersitz zurück, lasse die Hände am Lenkrad. Da hilft nur eins: Ruhe bewahren.
"Ich hab Sie übersehen, tut mir leid. Ist ja nix passiert", versuche ich es erstmal freundlich und setze ein Lächeln auf. Doch den Paketdienst-Mitarbeiter interessiert das herzlich wenig.
"Sie können doch nicht einfach wie so 'n blindes Huhn um die Ecke schießen!" Ich will gerade zu einem bissigeren Konter ansetzen, als eine Hand, die ich nur allzu gut kenne, auf der Schulter des Typen landet.
"Es gab keinen Unfall", macht Tua ihm knurrend klar. "Bringen Sie den Leuten ihre Post." Der Kerl mustert meinen Freund. Er stellt dabei fest, dass Tua größer ist, das hält ihn allerdings nicht davon ab mir einen weiteren finsteren Blick zuzuwerfen. Mein Freund verdreht die Augen und packt ihn rigoros am Arm, um ihn vom Auto - beziehungsweise von mir - wegzuschieben.
"Lass gut sein", meine ich ernst. Tua hört auf mich, rügt den Mann aber trotzdem: "Kein Grund, sie so anzufahren, ja? Sie hat dir nix getan."
"Sie fährt wie eine Bekloppte!", protestiert der Postbote entschieden. "Frauen hinterm Steuer", grummelt er und ich schüttle nur fassungslos den Kopf über den sexistischen Kommentar, doch Tua nimmt das nicht so locker.
"Geh dein Scheiß-Paket wegbringen", fordert er ihn grob auf, ehe er ihn demonstrativ loslässt und auf den Bürgersteig schubst. Ich beobachte meinen Freund dabei, wie der das Auto umrundet. Er steigt ein, die Tür schlägt er laut zu. "Fahr los", sagt er zu mir. Der aufgebrachte Fahrer des Postautos zieht Leine. Ich sehe ihm hinterher, dann lasse ich den Motor an.
"Was ist los mit dir?", frage ich Tua in besänftigender Stimmlage und manövriere den Wagen vorbei an dem quietschgelben Transporter. "Warum bist du so aggressiv?"
"Warum fährst du wie 'ne Bekloppte?", schleudert er mir eine fiese Frage entgegen und ich entscheide mich vorerst für beleidigtes Schweigen. Er ist unruhig, zerrt seine Zigaretten aus seiner Jackentasche, lässt das Fenster runter. "Tut mir leid", entschuldigt er sich und zündet die Kippe an.
"Du bist schon wieder ein Arschloch", konstatiere ich.
"Ich weiß."
"Und?"
"Ändert sich."
"Das wollte ich hören. Also. Was ist los?" Tua zieht an seiner Zigarette, ehe er antwortet: "Ging heute um so 'ne krasse Geschichte aus meiner Jugend." Er bläst den Rauch im Stoß aus. "Ich kannte mal so ein Mädchen. Leila. Wir hatten irgendwie was laufen. Sie war in 'ner On-Off-Beziehung mit 'nem miesen Typen, aber daraus wollte sie sich nicht lösen. Hat mir dauernd die Ohren vollgeheult seinetwegen, und ich hab ihr immer gesagt, sie soll Schluss machen. Sie hat nie auf mich gehört, da hab ich's irgendwann gelassen. Ging wahrscheinlich einfach nicht, wenn ich heute so drüber nachdenke. Dann hat sie ihn geheiratet. Sie ist nicht mehr bei mir aufgetaucht, Kontaktabbruch von ihrer Seite. Aber ich hab sie ständig im Block gesehen. Er hat sie schon früher manchmal geschlagen, und dann kam sie damit zu mir gerannt, hat's mir erzählt, und ich musste ihr aber schwören, dass ich ihm kein Haar krümme. Als sie ihn dann geheiratet hat, war ihr Gesicht mit jedem beschissenen Tag entstellter. Es kam der Punkt, da hat sie keiner mehr wiedererkannt. Nur ich noch. Weil ich noch wusste, wie hübsch sie mal gewesen war." Er macht eine kurze Pause, zieht wieder an seiner Zigarette. "Ich hab damals sogar überlegt, ihretwegen zu den Bullen zu gehen, und hab's im Endeffekt nie getan." Ich schiele zu ihm rüber. Dachte ich's mir doch. Verhärmte Züge. Es geht ihm nah.
"Die hätten ihr nicht geholfen, sie war mit ihm verheiratet", sage ich. "Außerdem hättest du dich selbst nur in Gefahr gebracht. Er kannte bestimmt Leute." Tua nickt. Aber zufrieden ist er nicht.
"Sie hat von Anfang an zu mir gesagt, ich soll draußen auf keinen Fall mit ihr reden. Weil er sonst was merkt und mir vielleicht wehtut. Sie hat mich geschützt, und was hab ich gemacht? Gar nix."
"Du machst dir Vorwürfe", halte ich das Offensichtliche fest. Er stößt einen Laut aus, irgendwas zwischen Schnauben und Lachen, bitter amüsiert.
"Ja, ich dachte, ich mach's wie die letzten fünfhundertmal. Komm, Johannes, probier's doch mal mit Selbstvorwürfen."
"Was hat dein Therapeut dazu gesagt?", hake ich ein, übergehe seine Ironie.
"Dass die Gegend und die Leute, mit denen ich dort zu tun hatte, meinen moralischen Kompass gefickt haben. Ich weiß, ich muss das akzeptieren, aber es jagt mich, Iara - diese Erinnerungen jagen mich", wiederholt er. "Vielleicht hätte die Polizei mir ja doch geglaubt. Ich war noch nicht vorbestraft, als das alles passiert ist."
"Du hast nichts riskiert, um sie zu schützen, das stimmt. Aber mehr, als dir das einzugestehen und es heute anders zu machen, kannst du nicht tun." Er schüttelt den Kopf.
"Du weißt nicht, wie schwer das ist. Gibt's denn gar nichts in deinem Leben, dass du bereust?", brummt er.
"Ich habe inzwischen gemerkt, das Reue mir nicht weiterhilft", gebe ich zurück. "Stell dir vor, ich würde jetzt anfangen, zu bereuen, dass ich bei dir geblieben bin nach dem Tod deines Vaters, obwohl du mich so schlecht behandelt hast. Stell dir vor, ich würde jetzt in diesem Augenblick bereuen, dass ich dich von der Therapie abhole, obwohl du dich unmittelbar danach so oft wie ein Riesenarschloch mir gegenüber benimmst." Ich sehe ihn an, als wir an einer roten Ampel warten müssen und lege meine Hand auf sein Knie. "Natürlich bereue ich nichts davon. Ich sehe, dass dich deine ständige Reue blockiert, also hör auf. Lass es gehen."
"Okay", murmelt er, als die Ampel auf Gelb springt. Ich lehne mich zu ihm rüber und hauche ihm einen raschen Kuss auf die Wange. "Danke, dass ich mir diese Dinge von der Seele reden kann bei dir." Ich lächle.
"Klar darfst du. Du bist einer der wenigen, die dieses Angebot zu schätzen wissen." Tua streicht mir sanft übers Haar.
"Was ist los mit dir, Iara?"
DU LIEST GERADE
Messias
RandomIara war schon mit vierzehn in der Rap-Szene unterwegs, hier mit der einen Band am Start, dort mit der anderen. Irgendwie kommt man nicht mehr raus aus diesem doch sehr speziellen Freundeskreis. Aber warum sollte man das auch wollen? Staffel 4 meine...