Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht ... (1/2)

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Draußen ist es eiskalt, Schneeregen rieselt vom grauen Himmel. Perfekter Start in einen Urlaub.
"Sieht aus wie der Beginn der Apokalypse." Tua verlädt skeptisch meinen Koffer, während er griesgrämig nach oben sieht.
"Petrus ist anscheinend schlecht drauf", bestätige ich. Punktgenau lande ich auf dem Beifahrersitz und hänge mir eine im rot-grünen Schottenkaro gemusterte Decke vom Rücksitz als wärmendes Cape um die Schultern.
"Was ist deine Superkraft?", lacht Tua mich aus, als er auf der Fahrerseite einsteigt.
"Die Schottendecke, die deine Mutter gehäkelt hat, verleiht Superkräfte?", frage ich mit gespielter Ernsthaftigkeit. Dennoch funkle ich ihn angriffslustig an. Wenn er mich auf den Arm nimmt, muss er das Gleiche einstecken.
Mann, ist das kalt - "Hört dieser Winter denn nie auf?", murmele ich mehr zu mir selbst als zu meinem Freund, der sich hinter das Lenkrad klemmt und erstmal neues Leben in seine hohlen Hände haucht. "Eiszeit", nuschelt er wortkarg und startet den Motor seines alten Mercedes', der anfangs stottert, dann aber brav anspringt.
"Hast du ein Navi?", frage ich und will das Handschuhfach öffnen.
"Nicht!", warnt er mich, doch da ergießen sich bereits etwa fünfzehn Alben auf meinen Schoß.
"CDs?" Ungläubig hebe ich eine von der Fußmatte auf. "Ich wusste gar nicht, dass du so etwas besitzt; ich dachte, du wärst einer dieser Hipster-Nerds, die sich auf Streaming-Dienste unterwegs und Vinyl daheim beschränken." Für meine offenbar inakkuraten Ansichten über ihn ernte ich ein Augenverdrehen. Fasziniert halte ich eine von den Plastikhüllen ins Tageslicht und erkenne Maeckes darauf.
"Das sind meine einzigen. Kostbarkeiten sozusagen."
"Darf ich?", zeige ich auf den CD-Player am Armaturenbrett.
Er zuckt die Achseln und biegt auf die Frankfurter Allee ab. "Du hast die Macht über die Musik. Bis zur Autobahn finde ich den Weg. Danach kannst du Google Maps anschmeißen." Er wirft mir zwecks dessen sein Handy auf den Schoß.
Ich nicke desinteressiert und wähle ein Album aus der Sammlung aus, etwas von James Blake. Die Musik füllt den Raum um uns herum genügend, meinetwegen können wir die Fahrt über schweigen.
Tua ist da anscheinend anderer Meinung. "Sag mal ... Bin ich ein guter Freund?", fragt er ungewöhnlich ernst.
"Klar. Wie kommst du da gerade jetzt drauf?", zupfe ich verspielt an seinem Ohläppchen. Vielleicht lässt er das Thema fallen, wenn ich ihn dadurch hypnotiesiere.
"Ich gebe mir Mühe. Mann, keine Ahnung. Es ist wegen dem, was Hannes gesagt hat." Tuas Kehlkopf setzt sich in Bewegung, seine Körpersprache ist wie immer ziemlich aufschlussreich.
Verlegen schweige ich, denn so sehr ich seine anderen Freunde auch mag ... Hannes ist merkwürdig. "Hat er was gesagt zu dir, was das Gegenteil implizieren würde?", frage ich betreten, doch er schüttelt lediglich den Kopf. "Nein, ich versuche mir nur seit gestern einen Reim auf die Scheiße zu machen, die er verzapft."
"Willst du das echt auf der Fahrt schon vor mir ausbreiten?", murmele ich ablehnend. Mir geht es lediglich darum, Tua zu schützen. Was den gestrigen Abend angeht, ähnelt er einer tickenden Zeitbombe. Jede Sekunde, in der er darüber redet, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er hochgeht und sich tierisch aufregt.
"Sorry, dass ich nachdenke", grummelt er. Tja, man kann eben wirklich nichts richtig machen.
"Mich beschäftigt das doch auch." Ich lege meine Hand an die kalte Fensterscheibe. Der entstandene Abdruck wird von den Regentropfen auf der anderen Seite geküsst. Das Thema verklingt und löst sich vorerst in ein honigsüßes Nichts auf. 

"Hat Hannes dir das Gleiche wie mir gesagt? Dass wir nicht gut zusammenpassen würden?", bohrt Tua dann doch nach.
"Ja. Das ist es nur nicht, was mich beunruhigt", antworte ich seufzend. "Ich dachte eine ganze Weile selbst nicht, dass wir zusammenpassen, und dir ging's doch genauso. Hannes äußert sich offen über das, was er sieht. Und was hat er schon gesehen gestern, von dir und mir? Auf den ersten Blick passen wir wirklich nicht zusammen. Du bist älter, deine Lebenserfahrung übersteigt meine um Jahre und deine künstlerische Persönlichkeit geht nicht zwingend mit meinen eher praktischen Veranlagungen Hand in Hand. Wir ähneln uns in unserer Einfühlsamkeit und unserem Egoismus. Woher soll Hannes das wissen? Er kennt nur dich. Und dazu noch einen Teil von dir, den ich nicht sonderlich gut kenne, weil du ihn vor mir versteckst. Das beunruhigt mich."
"Ich habe meine Gründe dafür", verschließt er sich mir sofort. Was hatte ich auch anderes erwartet?
Ich schnaube. "Tua, du bist ein mieser Lügner gewesen, bevor ich dich getroffen habe; das sagt nicht nur Hannes, das sagen beispielsweise auch Maeckes und Tarik."
"So bin ich nicht mehr." Der feste Griff ums Lenkrad wird ihm bald einen Krampf bescheren. Seine Fingerknöchel treten weiß hervor.
"Wirklich nicht? Als ich mit dir Schluss gemacht habe, warst du es noch." Kaum sind die Worte raus, beiße ich mir auf die Zunge.
"Als du mit mir Schluss gemacht hast, hast du komplett überreagiert!" Es ist unverkennbar, dass ich ihn in seinem Stolz gekränkt habe. Seine Stirn kräuselt sich, seine Miene strotzt nur so vor Verständnislosigkeit. Als hätte das damals nur an mir gelegen ... Wut kocht in meinem Bauch hoch. "Nein, ich habe dir klar gemacht, dass du gefälligst ehrlich zu mir zu sein hast, wenn du mein Freund bleiben willst!"
"Du hättest mir das sagen können, ohne direkt Schluss zu machen!", beharrt er auf seine Meinung.
"Dieser Weckruf hätte nicht funktioniert, hätte ich dich nicht voll auflaufen lassen", gebe ich mich weltmännisch und schnipse einen Fussel von meinem schwarzen Strickpulli.
"Hast du echt geplant mich abzuservieren?" Einen Sekundenbruchteil herrscht absolute Stille. "Wow, danke auch. Ich höre gerade zum ersten Mal aus deinem Mund, für was für einen Spacko du mich hältst."
"Nein, natürlich war das nicht geplant." Meine Hand findet ihren Platz auf der Schulter, die er mir zugewandt hat.
"Dann stell es doch nicht dar, als hättest du dir ewig lange Gedanken über die Konsequenzen gemacht, das hast du nicht!", schnauzt er mich an und duckt sich weg. "Es war eine miese Impulsentscheidung. Du hast genauso darunter gelitten wie ich", fährt er leiser fort.
"Hör auf mit mir zu streiten." Genervt schließe ich die Augen. "Wir fahren in den Urlaub, verdammt!", zische ich.
"Du hast mich als Lügner bezeichnet und damit diesen Streit vom Zaun gebrochen, schreib dir das auf deine eigene Fahne!"
"Was kann ich dafür, dass du immer gleich ausrasten musst?!"
"Du rastest mit mir aus!"
"Guck auf die Straße!", brülle ich, reiße das Lenkrad rum und wir weichen knapp einem Auffahrunfall mit zwei zusammengequetschten Autos aus, der unmittelbar vor uns passiert ist.
"Was zur Hölle?!", flucht er.

Tua lenkt den Wagen auf den nächstbesten, verlassenen Parkplatz und lässt den Motor aus.
"Danke", nuschelt er nach einer Weile.
"Schon okay", stammle ich noch reichlich geschockt.
Ich taste nach seinem Knie, da vergräbt er sein Gesicht in seinen Händen. "Fuck!", schreit er erstickt hinein.
"Tua ..." Sanft kraule ich ihn im Nacken. "Es ist nix passiert, mir geht's prima."
"Lügnerin, deine Hand zittert."
Langsam ziehe ich mich zurück, umfasse nervös mein Handgelenk. Ich bin unschlüssig, was ich sagen soll. "Entschuldige, dass ich dich beleidigt habe", meine ich zögerlich und werfe ihm einen scheuen Seitenblick zu, doch er starrt durch die Windschutzscheibe auf den grasbewachsenen Hang.
"Er hat so Recht, ich bin schlecht für dich", flüstert er.
Nicht zu fassen, dass er das tatsächlich glaubt!
"Ist das dein Ernst? Hannes weiß einen feuchten Dreck!", rufe ich.
"Hannes kennt diese Seite von mir, die du nicht kennst!"
"Das ist nur ein Teil von dir, ein einzelner Teil!" Wütend gestikuliere ich mit erhobenem Zeigefinger. "Du bist nicht ausnahmslos gut für mich, das will ich gar nicht leugnen, aber du bist auch nicht ausnahmslos schlecht. Du bist der Einzige, der sich Mühe gibt nachzuvollziehen, was ich durchmache!" Die nächsten Sätze sprudeln aus mir heraus. "Du bist der Einzige, der sich nicht vor mir erschrocken hat, als das mit Harvey vorbei war und ich plötzlich beziehungsphob und streitsüchtig wurde; der Einzige, der weiß, dass ich dich nicht anschreie, um dich gezielt zu verletzen. Niemand versteht mich so wie du. Es ist als gebe es einen Teil von dir, auf dem Iara verstehen draufsteht. Und ich schulde diesem Teil von dir, der mich wollte, wie ich war, alles. Dieser Teil von dir hat mich dazu veranlasst, dich als ein Gefüge unterschiedlicher Teile zu lieben; im Ganzen, so wie du bist. Und das ist es, was ich am Ende des Tages tue, weil es das ist, was du mit mir tust. Ich liebe dich. Jeden Teil von dir. Jeden, der gut für mich ist und jeden, der schlecht für mich ist. Daran hat sich nichts geändert. Nicht einmal während der Trennung."
Angespannt kaue ich auf meiner Unterlippe herum. Mit nach wie vor zittrigen Fingern angle ich wortlos das Päckchen Zigaretten aus dem Getränkehalter. "Ich gehe mir die Beine vertreten."
"Lass die hier", deutet er auf die Kippen. Trotzig zücke ich eine zusammen mit seinem Feuerzeug, stecke sie an und verlasse den Wagen.
Was war das?
Ein Liebesgeständnis, haucht die eine Hälfte.
Eine Katastrophe, will die andere mir weismachen.
Nachdem ich aufgeraucht habe, beschließe ich, diesen keifenden Stimmen in meinem Kopf nicht länger zuzuhören. Tua ist weg, als ich das Auto wieder erreiche. Damit gewinnt wohl die Katastrophe. Erschöpft falle ich auf die Rückbank und starre Löcher in die Luft. Es könnten Minuten oder Stunden vergangen sein. Jedenfalls werde ich durch einen unangenehmen Windzug aus meiner Trance gerissen. Tua kniet sich zu mir. Vor lauter Erleichterung über seine Rückkehr richte ich mich halb auf und küsse ihn stürmisch am Hals, auf die Wange, die weichen Lippen ... "Bleib liegen", unterbricht er mich. Er folgt mir nach unten. Wir küssen uns, bis die Leidenschaft entbrennt und wir zeitgleich fordernder werden. Als er meinen Pullover hochschiebt, lacht er leise. Was sieht er? Ist es mal wieder soweit und man kann meine Rippen zählen? "Was ist?", frage ich beschämt.
"Das ist der BH, den du anhattest, als wir das erste Mal miteinander geschlafen haben." 
Ich atme innerlich auf. "Daran willst du dich erinnern? Bist du dir sicher?" Skeptisch zupfe ich an der hellgrauen Basic-Unterwäsche.
Er sieht mir tief in die Augen. "Ja, todsicher. Mir gefiel, dass deine Brüste normal darin aussahen, nicht so übertrieben unnatürlich." Er versucht mich in einen weiteren Kuss zu verwickeln, doch ich klopfe gegen seine Brust. "Du hattest eine schwarze Unterhose von Calvin Klein an. Eine, bei der man beste Aussicht hatte." Tua grinst und küsst mich. Wieder löse ich mich von ihm. "Ich weiß noch, wie ich dachte: Hey, sowas wie Push Up gibt es also auch für Männer." Er grinst in den nächsten Kuss hinein. "Und dann dachte ich: Oh." Dabei gehe ich mit der Stimme eine Oktave höher. Tua lacht, bevor er meinen Körper zärtlich mit Küssen bedeckt.
"Wieso bist du attraktiver, wenn wir gestritten haben?", frage ich ratlos.
"Dunkle Aura oder so", begründet er es zwischen zwei sehnsüchtigen Küssen.
"Genau, weil ich selbst eine so finstere Person bin, dass ich voll darauf abfahre", spotte ich.
"Gegensätze ziehen sich an."
Der Flachwitz huscht über meine Lippen, ehe ich ihn aufhalten kann. "Momentan ziehen sich Gegensätze aus."
"Okay, du Quasselstrippe, du hältst jetzt den Rand, sonst kriegst du heute gar nix mehr von mir." Tua lässt endgültig den Verschluss meines BHs aufschnappen. Es stimmt, ich kann uns beiden nur einen Gefallen tun, wenn ich mich fallen lasse.

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt