Und wenn er auch die Wahrheit spricht ... (2/2)

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"Roter oder weißer Glühwein?" Tua hält mir zwei unterschiedliche Flaschen vors Gesicht und ich versuche meine Überforderung mit der Frage durch ein Räuspern zu überspielen. In Gedanken war ich gerade ganz woanders. Nicht bei dem geplanten Weihnachtsfest mit meiner engsten Familie, sondern bei dem seiner Familie, das eventuell gar nicht stattfindet. Sonst hätte Tua mich schließlich gebeten, mit ihm nach Süddeutschland zu fahren. Oder etwa nicht?
"Glühwein", konstatiere ich und nehme meinem Freund beide Flaschen aus der Hand.
"Hatten deine Mutter und dein Stiefvater noch andere Wünsche?" Tua scannt das Weinregal neben uns prüfend und ich mustere sein Profil. Da sind Schatten unter seinen Augen zu sehen und allgemein wirkt seine Haut ein wenig fahl. Der gräuliche Unterton könnte aber auch der miesen Beleuchtung des Supermarkts geschuldet sein, in dem wir stehen.
"Iara?", hakt er nochmal nach und ich erwache unwillkürlich aus meiner Starre.
"Ein paar Teelichter wollten sie", gebe ich wieder, was Mama am Telefon zu mir gesagt hat.
"Sollen wir 'ne große Packung kaufen?" Er kratzt sich skeptisch unterm Kinn, wo erst gestern der Barbier seinen Bart akkurat zurecht gestutzt hat.
"Nein", erwidere ich. "Lass uns bei dir welche holen und sie einzeln mitbringen."
Tua zuckt bloß die Schultern über meinen Vorschlag. "Wenn ich irgendwo welche finde."
"In dem Kabinett unter deinem Fernseher liegt ein aufgerissenes Paket."
Sein Blick wandert zurück zum Alkohol und ich frage mich, woran er wohl denkt. An seine Vergangenheit? An mich?
Ich für meinen Teil weiß genau, woran ich denke und weil mich die Sache einfach nicht mehr loslässt, spreche ich es an: "Was macht deine Familie an Weihnachten und wieso lädst du mich nicht ein?"
Einen Moment lang spiegelt sich die pure Überraschung in seiner Miene, dann aber wird sie durch tränenschimmernde Traurigkeit ersetzt. "Dieses Jahr feiern wir nicht, ansonsten wäre ich mit dir runtergefahren", versichert er mir, schafft es aber nicht, mir dabei in die Augen zu sehen.
"Ich finde es schade, dass du mir bis jetzt nicht gesagt hast, dass ihr an Weihnachten nicht feiert", rede ich über meine Gefühle und Tua atmet durch die Nase tief ein.
"Du hast nie explizit danach gefragt. Wenn wir ein Familienfest auf die Beine gestellt hätten dieses Jahr, wärst du natürlich mitgekommen", beteuert er.
"Das wäre eine gute Gelegenheit gewesen, mal deinen Vater kennenzulernen."
Etwas an seiner gesamten Haltung verändert sich plötzlich. Er scheint angespannt zu sein, aber seine Bewegungen wirken seltsam träge, als er nach einer anderen Glühwein-Marke greift. "Ich hätte es dir gegönnt", sagt er und es braucht gar nicht mehr. Irgendwas, was mit seinem Vater in Verbindung steht, stimmt ganz gewaltig nicht. Ich beschließe, ihn nicht verbal mit meinen Fragen zu attackieren. Stattdessen schlinge ich beide Arme um ihn und Tua drückt mich sofort an sich. Wir stehen eine Weile stumm in dem schwach ausgeleuchteten Gang, während Menschen ihre Einkaufswagen an uns vorbeischieben, links und rechts von uns in die Regale langen ... Als Tua sich von mir löst, scheint er weniger blass um die Nase zu sein und ich werte das als gutes Zeichen.
"Wir könnten doch einfach so hinfahren", schlage ich leichtherzig vor und ein dunkler Schleier legt sich über die klaren Augen meines Freunds.
"Nein", wehrt er monoton, aber nachdrücklich ab. Das Wieso? brennt mir auf der Zunge und ich kann mich nicht länger beherrschen: "Warum nicht?"
"Meine Eltern, meine Regeln", erklärt er plump. "Du hast bestimmt, wann ich deine kennenlerne, ich bestimme, wann du meine kennenlernst."
"Ich kenne deine Mutter doch schon", murre ich.
"Das nennst du kennen, ja? Wie viele Worte habt ihr denn miteinander gewechselt, als wir zur Beerdigung meines Opas in Reutlingen waren? Drei?"
"Mit dir hab ich an dem Wochenende auch nicht viel mehr als drei Worte gewechselt", meine ich anklagend.
"Jeder trauert auf seine Weise", verallgemeinert er sein Verhalten.
"Ein bisschen netter hättest du trotzdem zu mir sein können, du hast nicht mal versucht, mich in deine Familie zu integrieren", kritisiere ich ihn ungehemmt.
"Ich war in Trauer, wie oft denn noch?", reagiert er gereizt darauf.
"Bist du jetzt in Trauer?", kontere ich.
Tua lacht freudlos auf, fügt dem aber nichts hinzu und platziert den Glühwein auf dem Kassenband.

"Das ergibt einfach keinen Sinn, ihr feiert sonst immer, aber ausgerechnet in diesem Jahr nicht, in dem du mich das erste Mal mitnehmen und deinen Eltern ordentlich vorstellen müsstest, oder was?" Ich verschränke eingeschnappt die Arme vor der Brust. "Hat das was mit Mascha und deinem Weihnachtstrauma zu tun?"
"Wer hat denn festgelegt, dass ich dich dieses Jahr meinen Eltern vorstellen müsste? Das warst du doch, oder? Ich habe kein Mitspracherecht in dieser Sache, oder was?"
"Nichts spricht dagegen! Selbst, wenn es stimmt, was du sagst und das keine dumme Ausrede ist, könnten wir zu deiner Familie fahren und ein paar Tage bei ihnen verbringen."
"Schön, wie du mir zutraust, dass ich dich wegen so 'ner Lappalie anschwindle", knurrt Tua, knallt den Küchenschrank zu, in dem er gerade den Glühwein verstaut hat, den wir morgen für das Festtagsessen bei Mama und Thoralf beisteuern wollen. "Es gibt keine Familienfeier auf meiner Seite und damit basta, Iara, wir diskutieren jetzt nicht weiter darüber."
"Was stimmt denn nur nicht mit dir?!" Ich kann nicht verhindern, dass meine Stimme schrill klingt, als ich es sage.
"Ich versuche hier die Ruhe zu bewahren, aber du bist nicht gerade hilfreich!", brüllt er zurück und ich weiche ihm erschrocken aus. Tua ist an mir vorbei in den Flur gestürmt und ich höre im Schlafzimmer entferntes Gepolter. Vorsichtig linse ich in den Raum und beobachte meinen Freund, der wie wild geworden Sportklamotten in die schwarze Tasche wirft, die er immer zum Training mitnimmt. Eine Wasserflasche landet zusätzlich oben drauf, ehe er den Reißverschluss mit einem beherzten Ruck zuzieht.
"Tua ...", flüstere ich leise, eine Entschuldigung klingt darin mit.
Er zeigt mir wortlos den Mittelfinger und mustert mich finster von oben herab. Einen Moment lang bleibt er vor mir stehen. Ich ergreife die Chance, packe ihn am Kragen und küsse ihn. Kurz erwidert er die Zärtlichkeit, als hätte er vergessen, dass er sauer auf mich ist und ich schöpfe bereits Hoffnung, aber dann pralle ich mit dem Rücken gegen den Türrahmen. Er hat mich weggestoßen und ist halb aus der Haustür. "Wo willst du hin?", rufe ich, doch er ist schon fort und ich verziehe das Gesicht. Mein Rücken tut mir weh. Das ist der erste Punkt auf der langen Liste von Dingen, über die ich dringend mit ihm sprechen muss.

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt