Ich wache auf davon, wie Tua sanft an meiner Schulter rüttelt. Er sieht aus, als wäre er gestern gestorben, nicht sein Vater. Vor Erstaunen weiten sich meine Augen, als ich die Teetasse auf meinem Nachttisch bemerke. Tee gegen Nervenleiden. Es ist derselbe, den ich gestern für ihn und seine Mutter gekocht habe.
"Wie spät ist es?", frage ich ihn vorsichtig, setze mich auf und reibe mir dabei über die Augen. Draußen ist es noch dunkel.
"Sieben", antwortet Tua und legt sich wieder zu mir.
"Wie geht's deiner Mutter?", will ich wissen, nehme die Tasse vom Nachtschrank und puste leicht, damit die Flüssigkeit ein wenig abkühlt, bevor ich den ersten Schluck trinke.
"Sie schläft", beantwortet Tua meine Frage knapp. Er schweigt, und ich warte geduldig, immerhin hat er mich geweckt, nicht umgekehrt. Wenn er mir was zu sagen hat, dann wird er es tun, ohne dass ich nachzubohren brauche. Meine Wut auf ihn ist noch immer nicht ganz abgeklungen, stelle ich fest. Unser Streit gestern in der Nacht war vielleicht einer der unangenehmsten, die wir je hatten.
"Ich konnte nicht schlafen", sagt er und ich beäuge ihn schief von der Seite, was er wohl irgendwann als so albern empfindet, dass er mich finster fixiert, bis ich wegschaue. Er sieht wirklich nicht gut aus.
"Hattest du Albträume?", frage ich ihn.
"Nein, ich lag wach." Er schaut mir in die Augen und die Trauer, die ich darin sehe, schwappt sofort auf mich über. Tränen steigen in mir auf. "Ich habe mich in den letzten Tagen dir gegenüber fürchterlich benommen und ich denke dauernd, dass das nicht fair ist und dass unsere Beziehung keinen Sinn hat, wenn ich dich nicht gut behandeln kann."
Das ist ein harter Brocken, den ich erstmal schlucken muss. Ich stelle die Tasse zurück an ihren angestammten Platz auf dem Nachttisch, schlage die Decke zurück und stehe auf. Langsam tapse ich zum Fenster rüber und blicke auf die Straße. Alles ist leer; in meinem Kopf geht dafür alles drunter und drüber, weil tausend Erinnerungen auf einmal hindurchschießen. Wie ich ihn das erste Mal gesehen habe, unser erster Kuss, mein Geburtstag - das Treffen mit seinen Freunden. Es wäre einfach, Hannes die Schuld zu geben und zu behaupten, dass er Tua diesen Floh ins Ohr gesetzt hat, aber das stimmt nicht. Hannes nutzt nur die Unsicherheiten aus, die Tua eh schon quälen. Nach seiner letzten Beziehung, in der er Gift für die Frau war, die ihn geliebt hat, hat sich die Überzeugung in seinem Hinterstübchen eingenistet, Gift für alle zu sein, die er liebt. Mich miteingerechnet. Ich drehe mich zu ihm um, lehne mich mit dem Rücken gegen das kühle Glas und betrachte meinen Freund, der aufrecht im Bett sitzt, mir genau gegenüber, den Rücken gegen das harte Kopfteil gepresst, als wollte er weit weg von mir, könnte aber keine Kraft mehr aufbringen, vor mir zu fliehen. Vielleicht ist es ja genau so. Ich muss schlucken, dann finde ich meine Stimme endlich wieder.
"Du darfst diese feige Haltung zu unserer Beziehung nicht weiter ausbauen. Ich werde dich nicht verlassen, Tua. Brich dir nicht schon wieder selbst das Herz; nicht wie damals bei Ami."
Bei der Erwähnung seiner ersten Freundin sieht er mir erneut stechend in die Augen, aber auch wenn es dafür sorgt, dass mir Tränen über die Wangen laufen, halte ich seinem eindringlichen Blick stand. "Auf dem Grunde deiner Seele weißt du, dass eine Trennung nicht das Beste für dich und mich ist." Ich gehe ein paar Schritte auf ihn zu, bis ich das Fußende des Bettes erreiche. "Das Beste für uns beide ist es, wenn wir diese Krise gemeinsam durchstehen."
"Was macht dich da so sicher?", will er wissen und allein diese Frage genügt, um mich schon wieder an den Rand des Wahnsinns zu drängen.
"Dass ich dich liebe, verdammt, das macht mich da so sicher", knurre ich und wende mich meinem Koffer zu, aus dem ich mir ein paar Klamotten für den Tag schnappe. Ich erstarre, als Tua hinter mir auftaucht, beide Arme um mich legt und sich von hinten gegen mich presst. In diesem Augenblick fühle ich mich seltsam von ihm aufgefangen. Wenn er nur halbherzig die Dinge zwischen uns reparieren will, dann müsste sich diese Geste gerade auch halbherzig anfühlen. Sie fühlt sich aber im Gegenteil sehr ernstgemeint an. Ich habe Angst davor, was er als nächstes sagen könnte.
"Du hast mehr für mich getan in den letzten Tagen als irgendwer sonst. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viel Unterstützung und bedingungslose Liebe bekommen wie von dir. Ich weiß einfach nicht, ob ich ein Recht darauf habe."
"Würdest du dasselbe für mich tun?", frage ich ihn und klinge dabei monoton und hohl.
"Wenn ich könnte. Aber ich weiß nicht, ob ich es kann und das macht mich fertig. Es fühlt sich komisch an, dass ich zu schwach dazu sein könnte. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Im schlimmsten Fall heißt es, dass ich dich gar nicht wirklich liebe; dabei liebe ich dich mit jeder Faser meines Körpers und aus tiefster Seele. Du bist der stärkste Mensch, den ich kenne und du bist dir dessen noch nicht mal richtig bewusst", antwortet er. Ich spüre seine Lippen an meinem Hinterkopf. Als wäre das das Kommando gewesen, drehe ich mich in seinen Armen zu ihm um, vergrabe mein Gesicht an seiner Brust und fange bitterlich an zu heulen. In meinem Innern hat sich Anspannung bis zum Zerreißen aufgebaut und ich schaffe es gerade nicht mehr, der Fels in der Brandung zu sein. Meine Gemütslage ist alles andere als stabil, ich kann ihm nicht länger etwas vormachen. Tua hält meinen bebenden Körper fest und ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, bis ich mich gefangen habe.
"Ich bin mit meinen Kräften echt am Ende", gestehe ich schließlich. Es nur auszusprechen nimmt mir bereits einen Großteil dieser elenden Überlast von den Schultern. "Du musst anfangen, dir selbst zu helfen", schniefe ich, löse mich ein Stück von Tua, damit ich ihm fest in die Augen sehen kann. "Dein fehlendes Selbstbewusstsein macht mich krank. Mich und alle, die dich lieben. Wenn du diese Ängste nicht überwindest, bricht alles um dich herum zusammen. Hör auf, dich selbst so runterzuziehen. Keiner erwartet von dir, dass du das tust, weil es zum guten Ton gehört, oder was auch immer du dir dazu ausgedacht hast." Ich wische mir übers Gesicht. Tua erwidert nichts. Bei ihm ist das tatsächlich ein gutes Zeichen. Wenn er mal nichts sagt, denkt er nach und nimmt sich meine Worte zu Herzen. Ich übe mich in Geduld, die Stille hat mich früher immer verrückt gemacht, aber seit ich ihn besser kenne, habe ich sie zu schätzen gelernt. "Bitte, Tua", flehe ich leise. "Ich will dich nicht an eine fiese Stimme in deinem Kopf verlieren, die dir zuflüstert, du wärst nicht gut genug für mich."
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Messias
DiversosIara war schon mit vierzehn in der Rap-Szene unterwegs, hier mit der einen Band am Start, dort mit der anderen. Irgendwie kommt man nicht mehr raus aus diesem doch sehr speziellen Freundeskreis. Aber warum sollte man das auch wollen? Staffel 4 meine...