6 - Die Sensoren einer Mutter

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„Ach du alter Schwede, siehst du scheisse aus!", begrüsst mich mein Mitbewohner, als ich mit meiner Mama im Schlepptau in meine Wohnung trete.

Er steht mit nacktem Oberkörper und seinen viel zu grossen Boxershorts in der Küche und macht gerade Kaffee in seinem Espressokocher, auf den er so stolz ist. Meine Nase registriert den herrlichen Geruch von gerösteten Kaffeebohnen.

„Hallo auch dir, Tom", murmle ich dann und gehe schnurstracks in mein Zimmer. Mir ist nicht nach Kaffee zumute und das ist ein schlechtes Zeichen.

Tom – mein Mitbewohner – ist zwanzig und studiert Philosophie. Wir leben in einer absoluten Zwecks-WG und normalerweise sprechen wir kaum miteinander. Sehr selten treffen wir uns manchmal in unserer Küche und dann herrscht betretenes Schweigen zwischen uns. Ich kann mich ehrlich gesagt gar nicht mehr daran erinnern, weshalb ich mich für ihn entschieden habe, damals, als ich ein Casting für potenzielle Mitbewohner gemacht hatte. Vielleicht weil er mit seiner androgynen Erscheinung nicht bedrohlich wirkt und mich einfach in Frieden lässt, wenn ich es brauche – nämlich dann, wenn ich zuhause bin.

Tom verschlingt Bücher wie so ein Verrückter. Als ich ihn einmal gefragt hatte, warum er das tut, meinte er nur, dass er sich selbst bilde. Mit jedem Buch, welches er lese, füttere er seine Seele. Klingt irgendwie unheimlich. Meiner Meinung nach könnte der Junge mal was Richtiges zwischen die Zähne zum Beissen bekommen. Die Urwälder, die für all seine Bücher gefällt werden mussten, scheinen ihn aber genug zu sättigen.

Meine Mutter schliesst die Zimmertür, damit wir etwas Privatsphäre haben. Sie schaut mir dabei zu, wie ich mich auf mein Bett fallen lasse. Unauffällig schiebe ich mein Sextoy unter das Kissen. Sie soll beim Anblick meines Womanizers ja nicht gleich einen Herzinfarkt erleiden.

Das Zimmer ist eher spärlich eingerichtet, denn wirklich viel Krimskrams kann ich mir nicht leisten. Meine heilige Lichterkette mit kleinen Wölkchen hängt über meinem Bett, das ich seit meiner Pubertät schon habe und welches nie ersetzt wurde. Daneben habe ich ein kleines Nachttischchen.

Auf der anderen Seite des Raumes steht eine hölzerne Kommode, die ich von meiner Oma geerbt habe. Ein wirklich hässliches Möbelstück aus den 80ern, aber schliesslich hängen da Erinnerungen dran. In der Zimmerecke steht eines meiner wichtigsten Stücke: Mein schwarzer Sessel. Daneben liegt ein geflochtener Korb mit meinen Stricksachen.

Ich liebe das Stricken. Meine Oma hat es mir beigebracht, als sie noch lebte. Jeden Sonntag waren wir bei ihr in ihrer kleinen Wohnung auf Besuch. Als sie wegen ihrer Demenz nicht mehr richtig sprechen konnte, hat sie einfach nur gestrickt und ich sass stundenlang neben ihr und habe ihr dabei zugeschaut. Bis zu dem magischen Moment, als sie luzid genug war, um mir zu zeigen, wie man Maschen richtig anschlägt. Seither stricke ich für mein Leben gerne, auch wenn ich noch immer nicht sonderlich gut darin bin. Aber um etwas mit Leidenschaft tun zu können, muss man nicht unbedingt gut darin sein.

Zugegebenermassen ist mein Zimmer mein kleines Reich und normalerweise lasse ich wirklich niemanden hier rein. Tom hat absolutes Zutrittsverbot aus dem simplen Grund, dass er ein Mann ist. Er hält sich daran, ohne gross Fragen zu stellen. Hier drin hat niemand etwas verloren, ausser eben meine Mutter vielleicht. Die sucht die letzte Hoffnung in ihrer Tochter.

Ich starre an die Decke, während sich meine Mama neben mich aufs Bett setzt und mein Knie zu streicheln beginnt. Die ganze Autofahrt lang haben wir nicht gesprochen, weil mir nicht danach war. Ich habe schlechte Laune und zeige das gerne offen, sodass man mich auch ja nicht anspricht. Aber meine Mutter hat keine Angst vor der kleinen Furie in mir, sie ist eh die einzige, die dieses Monster zähmen kann.

Meine Laune ist im Keller, weil sich die vermeintliche Telefonnummer von Chris als falsch herausgestellt hat. Es war nicht sein eigenes Telefon, das er für unser Gespräch in der Schleuse benutzt hatte, sondern das eines Kollegen. Ein gewisser Daniel hat mir dann freundlicherweise zu verstehen gegeben, dass ich ihm nicht mehr schreiben darf und ich seine Nummer aus meinen Kontakten löschen soll, denn seine Frau habe schon Fragen gestellt. Als wäre es meine Schuld, dass Chris Daniels Telefon genommen hat, um mir mein Leben zu retten. Pf, Idiot.

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