45 - Beschützerinstinkt

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Der Schwan auf meinem Cappuccinoschaum sieht irgendwie komisch aus. Der gleicht eher einem Marabu – dem hässlichsten Vogel der Welt – als einem eleganten Gänsevogel. Ich rümpfe die Nase und nippe an meiner Tasse.

Jonas sitzt mir gegenüber. Er hat die Beine überschlagen und mustert mich mit der inquisitorischen Miene, die nur von ihm kommen kann, wenn er mich zu ergründen versucht.

„Hör auf", grummle ich hinter meiner Tasse hervor.

Mein grosser Bruder kippt sich den Espresso in den Rachen und stellt seine Tasse laut scheppernd zurück auf den Tisch.

„Ich meine es ernst, Schwester", sagt er und verschränkt die Arme vor sich.

Ich nehme noch einen Schluck von meinem Cappuccino und verbrenne mir dabei fast die Zunge.

„Das musst du nicht. Wirklich." Mein durchdringender Blick, den ich meinem Bruder zuwerfe, sagt hoffentlich alles.

„Wenn du es möchtest, dann tue ich es", meint Jonas und zuckt mit den Schultern, als sei das, was er mir vorgeschlagen hat, eine total belanglose Sache.

„Meine Meinung ändert sich nicht, Bruder. Ich bin keine Dramaqueen. Sowas ist nicht mein Stil. Lieber ziehe ich mich stillschweigend zurück und lasse Chris mit seiner Frau in Ruhe, als dass ich ein Theater vor seiner Hütte veranstalte."

Jonas und ich sitzen in meinem Lieblingscafé am Limmatplatz. Nachdem Viola ihm erzählt hat, wie sie mich vorgefunden hat, zwang er mich, ihn am Wochenende zu treffen. Er wollte den grossen Bruder raushängen und sich fürsorglich zeigen, das weiss ich. Jonas kennt mich gut genug, um zu spüren, wann es mir wirklich mies geht, und wann ich gewisse Hürden ganz alleine überstehe.

Über Chris hinwegzukommen ist in den Augen meines Bruders etwas, das ich ohne den brüderlichen Zuspruch nicht packe. Ob er recht hat oder nicht, weiss ich nicht genau.

„Ich möchte ihm aber gerne die Leviten lesen ...", knurrt Jonas.

In seinen Augen blitzt die Feindseligkeit auf. Sie brennt wie ein zorniges Feuer in dem Tiefblau seiner Iriden.

„Jonas", versuche ich seine Wut zu besänftigen.

„... und ihm in die Fresse schlagen", führt Jonas in der Beschreibung seiner Gewaltfantasien fort.

Seufzend stelle ich meine Tasse auf den Tisch und schüttle den Kopf.

„Was würde das bitte bringen?"

„Ich würde mich besser fühlen."

Aus seinem Tonfall höre ich, dass er es ernst meint. Mein Bruder will Chris wirklich an die Gurgel.

„Ja, schön. Ich mich aber nicht."

„Warum, Emma? Dieser Typ hat dich auf ganzer Linie verarscht! Du hast mehr als offensichtlich Gefühle für ihn entwickelt, während er die ganze Zeit wusste, dass er dich anlügt – dass er alles vorspielt, weil er seiner doofen Frau immer noch nachheult."

Ich presse die Lippen zusammen und schlucke den Kloss, der sich in meiner Kehle schon wieder bilden will, herunter. Noch ist es schwer für mich, die Tränen zu unterbinden. Mit jedem Tag, der vergeht, wird es besser gehen – muss es besser gehen.

Mein Bruder fährt in seiner flammenden Hassrede fort: „Dieses Schwein hat es ausgenutzt, dass du ihm so verfallen warst. Der hat dir die Welt zu Füssen gelegt, nur um dich in sein Bett zu bringen. Du warst der Freizeit-Vertreib, bis seine Frau ihn wieder zurückwollte. Meiner Meinung nach hätte er eine gebrochene Nase mehr als verdient."

Meine Augenbrauen zucken genervt. Jonas hat den Hang zum Übertreiben, genauso wie ich. Es ist äusserst irritierend, die eigenen Macken an anderen Menschen zu erkennen und sich davon gestört zu fühlen.

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