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Mirae blieb für den Abend bei mir. Ich hatte sie eigentlich nicht dazu überreden wollen, aber ich konnte nicht anders, so niedergeschlagen und leer, wie sie dreinblickte. Manchmal reagierte sie nicht einmal darauf, wenn ich etwas zu ihr sagte, oder ihr eines der Kuchenstücke gab, nachdem der Kuchen abgekühlt war. Sie hatte nur weit in die Ferne gestarrt und war ganz in sich gekehrt.
Zu später Abendstunde änderte sich das ganze allerdings. Sie hatte eine Dusche genommen und sich eine Jogginghose und ein Shirt von mir geborgt. Auch wenn sie noch immer miserabel aussah, war sie immerhin wieder ansprechbar und als sie zu mir ins Bett kletterte, damit wir eine Film schauen konnten, seufzte sie.
"Lass uns den Film nicht schauen. Ich glaube, ich bin bereit dir zu erzählen, was Sache ist. Ich behalte das alles ohnehin schon viel zu lange für mich."
Ich setzte mich auf und verschränkte die Beine untereinander. Mirae seufzte erneut. Ich nahm ihre Hand in meine.
"Du musst mir nichts erzählen, wenn du dich nicht bereit fühlst."
"Doch, ich muss. Ich bin es dir schuldig und ich bin es mir schuldig, dass ich es endlich jemandem anvertraue. Ich bin dieses ganze Weglaufen satt."
Sie beugte sich über mich, um den Laptop von meinem Nachttisch zu sich zu ziehen. Sie öffnete ihn und sah so fokussiert auf den Bildschirm, als würde sie daran an etwas arbeiten. Nach kurzer Zeit drehte sie den Laptop zu mir herum, damit ich das Passwort eingeben konnte und drehte ihn dann wieder zu sich, um prompt etwas in die Suchleiste einzugeben.

Noch ein Seufzen folgte, dann sah Mirae vom Bildschirm zu mir und wieder zurück und drehte den Laptop schließlich ein letztes Mal so, dass wir beide draufschauen konnten. Zum Vorschein kamen Bilder eines Mädchens in verschiedenen Altersstadien, ein kompletter Wikipedia Artikel, sämtliche Links zu Online Zeitschriften und in der Suchleiste prangten die Worte: "Schauspielerin Seol Gaeun". Ein Name, den ich vor relativ kurzer Zeit erst aufgeschnappt hatte. 
Beim weiterscrollen tauchten auch Bilder von der Frau auf, die Miraes Mutter zu sein schien, doch plötzlich war sie die Mutter von Seol Gaeun, Seol Hwaran. Auch ihr Name kam mir ziemlich bekannt vor, obwohl sie eine eher weniger bekannte Schauspielerin war, laut Wikipedia Artikel.
Ich wusste bereits worauf das hinauslief, aber dennoch wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte für den Moment bloß dazu übergehen, die bleiche Haut und die langen dunkelbraunen Haare von der jungen Seol Gaeun mit Miraes leicht dunklerer Haut und den kurzen strubbeligen hellbraunen Haaren zu vergleichen, doch es gab nur sehr wenig Ähnlichkeit. Die Augenform war eine Gemeinsamkeit, auch wenn ich mir nicht hundertprozentig sicher war, denn auf dem Bild in der Google Bildersuche trug Seol Gaeun Makeup, das ich an Mirae noch nicht gesehen hatte.
Mirae bemerkte meinen hin und her wandernden Blick.
"Ich habe nicht mehr viel mit dem Mädchen auf den Bildern gemeinsam. Diese Seol Gaeun gibt es nicht mehr. Und es wird auch niemals wieder eine andere geben. Ich bin nicht mehr Seol Gaeun, eigentlich war ich sie nie. Dieses Mädchen war immer nur eine Marionette des Showgeschäfts."
"Was ist passiert?", fragte ich ruhig und stellte den Laptop zur Seite.

Mirae hatte die Arme um sich geschlungen, als wäre ihr kalt. Oder als wollte sie sich zurückziehen. Umso mehr erstaunte es mich, als sie dennoch anfing zu sprechen.
"Ich hatte meine erste Filmrolle in den ersten Monaten meines Lebens. Für meine Mutter stand fest, dass ich zur Schauspielerin geboren worden bin und so hat sie mich auch erzogen. Ich hatte in den ersten Jahren immer wieder kleinere Rollen, bis ich mit sechs Jahren schließlich als Supporting Cast in einer Serie mitgespielt habe. Von da an ging es mit meiner Karriere steil bergauf. Werbeverträge, Interviews, Talkshows, unzählige Anfragen für Serien und Filme. Bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr hatte ich immer wieder Nebenrollen und dann kam das erste Casting für eine Hauptrolle. Ich weiß noch, wie ich mich versucht habe, gegen das Casting zu wehren. Die männliche Hauptrolle für die Drama-Produktion stand bereits fest und der erwählte Schauspieler war sieben Jahre älter als ich. Ich habe mich ziemlich unwohl gefühlt und es wurde während der Dreharbeiten nur schlimmer. Laut meiner Mutter musste ich lernen, mein Unwohlsein zu unterdrücken. 'Das gehört nun einmal zum Showgeschäft dazu, Dinge zu tun, die man nicht gerne tut.' Ich wurde zum Gehorchen erzogen, vom Hinterfragen abgebracht und hatte die ständige Erwartung im Nacken sitzen, dass ich meine Arbeit perfekt machen musste, um überhaupt einen Wert zu besitzen. Als ich siebzehn wurde, kurz nach meiner dritten Hauptrolle, brachte ich schließlich die Courage auf, meine Mutter endlich zur Rede zu stellen. Ich wollte bloß eine Pause, wollte herausfinden, was ich in meinem Leben tun wollte, aber meine Mutter sah das als Angriff und versuchte mir klar zu machen, dass Schauspielerin zu sein, die einzige Karriere für mich war. In der selben Nacht bin ich heimlich abgehauen und mit dem Bus so weit gefahren, wie ich konnte. Den Rest bin ich dann gelaufen, bis zu einem Dorf hier in der Nähe. Dort war ich zuerst übergangsweise bei einem Bauern untergekommen, der sich kaum noch um sein Feld kümmern konnte, also half ich ihm und er hat mich schließlich bei sich aufgenommen. Das war der Mann, der vor kurzem gestorben war. Er war nie mein leiblicher Großvater, aber er hat sich um mich gekümmert, wie ein Großvater und ich habe mich seit seiner Demenzerkrankung um ihn gekümmert, als wäre ich seine Enkelin."

the most painful things  || kim namjoonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt