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Mein Handy klingelte leise, als eine neue Benachrichtigung einging.
Es war nun kurz nach zwölf Uhr nachts und ich hatte stundenlang zwischen Wachen und Träumen gehangen, bis mich das leise Klingeln zu meinem Handy greifen ließ. Auf dem hellen Bildschirm wurde angezeigt, dass G-Dees Stream in ein paar Minuten beginnen würde.
Ich suchte nach meinen Kopfhörern und stöpselte sie ein, dann klickte ich auf den Stream und wartete. Dabei schlief ich fast wieder ein, aber dann erklang Kim Miraes Stimme und ich schlug die Augen wieder auf.
Sie wirkte nicht mehr so erschöpft wie noch vor wenigen Stunden und sie hatte ihre Brille abgesetzt. Noch immer war sie ungeschminkt, aber ihre Kleidung unterschied sich vollkommen von ihrem sonstigen Stil.
Als G-Dee trug sie ein schwarzes T-Shirt mit einem neonfarbenen Print, der aussah, wie willkürlich aufgetragene Sprenkel. Ihre Haare hatte sie unordentlich geflochten und auf dem Kopf trug sie eine schwarze Beanie mit einem Logo-Patch auf der Vorderseite, das dem Print auf ihrem Shirt entsprach. Ich konnte nicht lesen, was dort stand, da mein Bildschirm zu klein war, aber ich vermutete, dass es ihre eigene Merch-Reihe war.
Eines war jedoch sicher, auch wenn sie bloß die Brille abgenommen und die Kleidung gewechselt hatte, meine Nachbarin wirkte in ihrem Stream wie ein völlig anderer Mensch. Es war, als hätte sie ihre komplette Persönlichkeit geändert, auch als sie in die Kamera grinste und einige Subscriber grüßte, die wohl häufiger mit dabei waren oder gerade den Chat betraten.

Schnell kam G-Dee zum eigentlichen Thema und stellte ein düsteres Puzzle-Game vor. Dabei entschuldigte sie sich, dass es nicht wie geplant mit einem Horrorgame weiterging, das sie am Vortag begonnen hatte.
Die Meinungen des Chats spaltete sich. Viele fanden es cool, dass die Streamerin mal in eine etwas andere Richtung schlug, aber einige waren enttäuscht, da sie fürchteten nichts zu Lachen zu haben, wenn G-Dee sich nicht erschreckte und vom Stuhl fiel.
Allerdings war diese Sorge unbegründet, denn schnell stellte sich heraus, das G-Dee mit beinahe jedem frechen oder ironischen Spruch einen komödiantischen Volltreffer landete und das Spiel heiter untermalte, während sie mit zusammengekniffenen Augen den Bildschirm anstarrte und versuchte die Rätsel zu lösen. Das gelang ihr ganz gut, trotz der späten Uhrzeit und der Tatsache, dass sie vor gar nicht allzu langer Zeit noch total kaputt gewesen war.
Ich schaute eine ganze Weile ihrem Stream zu und verstand plötzlich, warum Taehyung sich zwischendurch in ihre Welt flüchtete. Sie verbreitete eine gute Stimmung, wirkte selbstbewusst und ausgelassen und sprach auch manchmal etwas ernster mit ihrer Community, ehe sie sofort wieder eine lustige Überleitung fand und die Stimmung erneut auflockerte.
Es war nichts mehr übrig von meiner schüchternen Nachbarin. Kim Mirae und G-Dee waren zwei verschiedene Personen. Die eine lebte am Tag und fuhr Tag um Tag in die nächste Stadt, um ihren Großvater zu besuchen, soweit ich mich erinnerte, und die andere lebte in der Nacht, wo sie den Tag vergaß und auch andere ihren Tag vergessen ließ. Sie schien für viele Menschen einen Safe Place geschaffen zu haben. Für sehr viele, denn es verfolgten sie zu diesem Zeitpunkt mehrere Millionen Menschen.

Irgendwann hatte ich den Stream ausschalten müssen. Nicht weil er uninteressant wurde, ganz im Gegenteil, ich hätte noch stundenlang zusehen können, wenn ich nicht so müde gewesen wäre.
Als ich das Display ausschaltete, war ich beinahe sofort eingeschlafen und ich hatte schon lange nicht mehr so eine ruhige Nacht wie diese gehabt.
Am Morgen wurde ich erst durch die Sonne geweckt, die schon eine Weile geschienen haben musste. Es war zehn Uhr morgens und als ich mich im Bett ausstreckte und dann zur hölzernen Zimmerdecke sah, fühlte ich mich vollkommen ausgeruht und entspannt.
Vielleicht zeigte das Landleben endlich Wirkung. Und die fehlende Störung durch den nächtlichen Lärm von Nebenan.
Als ich aufstand, sah ich, das Taehyung noch immer schlief. Ich ließ ihn weiterschlafen und kochte Tee. Als ich an dem bitteren Gebräu nippte, fiel mir wieder ein, wie scheußlich es schmeckte.
Dennoch nahm ich die Tasse mit, als ich mich zum hinteren Teil des Hauses begab. Die beiden Räume hier hatte ich noch nicht in Augenschein genommen, genauso wenig die hölzerne Schiebetür, die am Ende des Ganges lag. Als ich sie öffnete, zeigte sich eine kleine, wildbewachsene Rasenfläche. Ich setzte mich an den Rand des Hauses und ließ die Beine baumeln. Meine nackten Füße strichen über das hochgewachsene Gras. Wenn ich die Zehenspitzen ausstreckte, konnte ich sogar den Boden berühren.

Nebenan war raues Geklapper zu hören und das erste, was ich sah, war eine Gießkanne, die aus dem Nachbarhaus herausragte, gefolgt von Kim Mirae, die gerade die Erhöhung des Hauses hinabsteigen und auf die Rasenfläche treten wollte. Gerade als sie einen Fuß auf den Rasen gesetzt hatte, blickte sie auf und bemerkte mich. Sie hielt in der Bewegung inne, die Gießkanne hoch neben sich erhoben, um bei ihrem Abstieg das Gleichgewicht zu behalten.
"Guten Morgen", sagte ich und konnte ein Grinsen bei diesem fragwürdigen Anblick nicht unterdrücken.
"Guten Morgen", erwiderte sie, setzte nun den Fuß auf den Boden und verlor sogleich das Gleichgewicht. Mit einem leisen Schmerzenslaut verschwand sie hinter der halbhohen Hecke, die unsere kleinen Gärten voneinander trennte.
Ich stellte meine Teetasse ab und sprang auf.
"Alles in Ordnung?", fragte ich und stieg wie selbstverständlich über die Hecke.
"Halt!", rief Kim Mirae, als ich gerade das andere Bein nachziehen wollte. "Sie stehen in meinem Erdbeerbeet!"
Ich trat wieder zurück und machte einen größeren Schritt um über das Beet hinüberzusteigen und im selben Moment hatte meine Nachbarin sich schon aufgerichtet und wollte gerade zu mir stapfen, als sie mit dem umgeknickten Fuß auftrat und schmerzerfüllt aufschrie. Beinahe wäre sie ein weiteres Mal hingefallen, doch ich griff noch rechtzeitig nach ihren Armen und stabilisierte sie.
"Der scheint ganz schön was abbekommen zu haben", sagte ich und deutete auf ihren rechten Knöchel, der frei lag. Noch war keine Schwellung oder dergleichen erkennbar, aber das würde sich vermutlich schnell ändern.
"Lassen Sie mich mal sehen."

Mit schmerzverzerrtem Gesicht humpelte meine Nachbarin zum Haus und setzte sich auf die Kannte. Vorsichtig hob ich ihren Fuß an. Schon das ließ sie unter Schmerzen aufzischen.
"Ich bin kein Arzt, aber das hört sich nicht gut an. Vielleicht sollten Sie das mal durchchecken lassen."
"Du. Duzen wir uns, wo wir schon einmal in so einer unangenehmen Situation stecken", sagte sie und betrachtete ihren Knöchel. Schweiß rann ihre Stirn hinunter und als sie versuchte den Fuß zu bewegen, zitterte kaum merklich ihr Kinn. Sie musste ganz schön schlimm aufgekommen sein.
"Ich werde etwas zum Kühlen besorgen, einen Moment", sagte ich und war schon wieder drüben, bevor Kim Mirae etwas erwidern konnte. Nach der Hälfte des Flures blieb ich allerdings stehen und joggte zurück. Ich hatte nichts tiefgekühltes, das ich ihr hätte anbieten können.
Kim Mirae versuchte abermals ihren Fuß zu bewegen, als ich zurückkam und wimmerte vor Schmerz. Ein seltsam entschlossener Ausdruck war auf ihr Gesicht geschrieben, bevor sie mich verwundert ansah, da ich mit leeren Händen zurückkam.
"Ich habe vergessen, dass ich nichts tiefgefrorenes Zuhause habe. Ich hole etwas aus deinem Haus, wenn es okay ist."
"Ist schon gut, ich mache das schon. Ich muss mein Bein vermutlich sowieso erst einmal hochlegen."
Mit dem gesunden Fuß versuchte sie sich hochzustemmen, doch das gestaltete sich schwieriger, als erwartet, wenn man den anderen Fuß nicht einmal sanft abstellen konnte. Kurzerhand verlor sie erneut das Gleichgewicht, doch wieder einmal waren ihre Reflexe nicht so gut wie meine. Bevor sie von der Erhöhung fallen konnte, hatte ich sie mit beiden Händen an der Taille gepackt und sie stützte sich an meinen Schultern ab. Erschrocken sahen wir uns an.
"Diese Häuser sind wirklich gefährlich, vielleicht hätte man eine Treppe zum Garten anbauen sollen", sagte ich, während ich mit vor Schreck stark pochendem Herz in Kim Miraes weit geöffnete Augen sah. Erst jetzt fiel mir auf, wie groß und wohlgeformt sie eigentlich waren.
"Vielleicht hätte man das", sagte sie überlegend und für einen Moment überzog meine Arme eine leichte Gänsehaut. Hatte ihre Stimme schon immer so sanft geklungen?

Im nächsten Moment hatte sie sich schon wieder aufgerichtet und sich von mir losgemacht.
"Ich, ähm, geh dann mal rein", sagte sie und zeigte hinter sich ins Haus.
"Soll ich dir nicht helfen?"
"Geht schon", lachte sie verlegen. "Ich stützte mich an den Wänden und was ich sonst noch so finden kann ab."
Damit wandte sie sich ab und humpelte erst unbeholfen ins Haus, ehe sie sich dazu entschied, lieber auf dem gesunden Fuß zu hüpfen, um den Schmerzen zu entgehen. Es wäre abermals ein witziger Anblick gewesen, hätte ich nicht gesehen, welche Schmerzen Kim Mirae hatte.
Noch einmal hörte ich sie durch das Haus hüpfen und als alles still war, war mir klar, dass sie ihr Bein wohl hochgelegt hatte und nicht mehr zurückkam.
Ich stellte ihre nun beinahe leere Gießkanne auf die Erhöhung und ging zurück zu meinem Haus. Noch ein paar Minuten saß ich draußen und zwang mich diesen ekelerregenden Tee zu trinken, bevor ich auch wieder reinging und nach etwas zum Frühstücken suchte.




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[ich muss das kapitel einen tag früher hochladen, weil ich morgen den ganzen tag unterwegs sein werde. ich habe jetzt immerhin zwei ferienjobs und dann gibt es noch sowas, das nennt sich freunde (krass oder?) und ich muss meine drei trainingstage im gym einhalten, weil sonst wird das nichts mit dem late-summer-body. xD
wir lesen uns nächsten mittwoch! <3]

the most painful things  || kim namjoonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt