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Sechs Tage lag schien von Mirae jede Spur zu fehlen.
Jetzt, wo ich den unvergesslichen Kuss und die darauf folgende Abfuhr verdaut hatte, wollte ich mit ihr reden und sie um einen Neustart bitten. Ohne voreilige Annäherungsversuche und mögliche Erwartungen. Ich wollte mit dieser Frau eine Freundschaft aufbauen und mit ihr weitere sorglose Stunden verbringen, um zu vergessen, dass ich noch immer kein einziges sinnvolles Wort auf Papier gebracht hatte und mir immer mehr Leute im Nacken saßen, da bestimmte Deadlines eingehalten werden mussten und andere nicht weiter verschoben werden konnten.
Jeden einzelnen Tag stand ich früh auf, um sie zu erwischen, doch sie schien schon lange weg zu sein. Auch durch langes wach bleiben traf ich sie nie an, denn ich sah und hörte nie, wie sie zurück nach Hause kam. Nicht einmal ihre Streams konnte ich mehr hören, auch wenn sie weiterhin täglich streamte und als G-Dee so unbekümmert und witzig wirkte. Vielleicht hatte Mirae ihr Aufnahmezimmer ja bereits schalldicht gemacht und war deswegen nicht mehr hörbar für mich wenn ich in meinem Bett lag.
Um mich von Miraes ständiger Abwesenheit abzulenken, besuchte ich nun jeden Auftritt von Astra Black im Mencki. Bei jedem neuen Auftritt wurden ihre Texte trauriger, dann tiefsinniger und dann wütender und ich wusste nicht, wo sie es hernahm, aber bei fast jedem Auftritt spielte sie eine Reihe neuer Songs und ihre Ideen schienen niemals zu versiegen.
An dem Tag, an dem sie sich ein zweites Mal neben mich gesetzt hatte und Sashi ihr ein Glas Orangensaft hinstellte, war ich so neidisch auf sie, wie auf keinen Menschen zuvor. Diese Künstlerin hatte das, was ich verloren hatte. Ideenreichtum und die Fähigkeit ihre Seele in Text und Melodie zu verpacken.

"Einen doppelten Whiskey, bitte", sagte ich zum Betreiber der Bar und erst sah er mich ein wenig mitleidig an, dann nickte er aber seufzend.
Nachdem Sashi ihn mir vor die Nase gestellt hatte, exte ich ihn in zwei Zügen.
"Noch einen, bitte."
Ein Rascheln neben mir, ließ mich den Kopf zu Astra Black wenden. Sie sah mich hochinteressiert an und als dann das nächste Glas vor mir landete und ich danach griff, war ihre Hand eindeutig schneller. Sie hob das kleine Glas an die eigenen Lippen und trank es noch schneller als ich zuvor.
"Warum auch immer du dich volllaufen lässt, hör auf damit", sagte sie ernst und reichte dem verdutzten Barkeeper das Glas. Mit stockender Bewegung nahm er es an.
"Kannst du ihm ein Glas Wasser geben? Ich zahle. Für alles."
Ich klappte den Mund auf und wehrte mit den Händen ab.
"Nein. Nein, das kann ich nicht annehmen."
Astra Black nickte dem Barbesitzer zu und drehte sich dann wieder zu mir. Ihr Blick war noch immer ernst und unnachgiebig.
"Genau deshalb tue ich es. Alles, was du heute noch bestellst, geht auf meine Kappe, also solltest du es bei Wasser belassen."

Sie setzte sich wieder mit dem Blick zur Getränkeauswahl des Ladens und nahm nun ihren unberührten Orangensaft, den sie in schnellen Zügen trank. So wie letztes Mal.
Ich bekam beinahe nicht mit, wie Sashi mir ein Glas Wasser zuschob, das ich dankend annahm. Zugegebenermaßen war meine Kehle ziemlich trocken und der Geschmack des Alkohols an diesem Abend war mittlerweile unerträglich beißend auf der Zunge. Genauso wie die Sängerin neben mir ihren Saft trank, trank ich mein Wasser und fühlte mich gleich erfrischter.
Aber nicht weniger neidisch auf Astra Black oder weniger niedergeschlagen, weil ich Mirae nicht mehr sah und auch nicht weniger grüblerisch, wegen des Vorfalls, in den Cho Yejin vor ein paar Tagen verstrickt gewesen war.
Das alles trieb mich, zusammen mit meiner Schreibblockade, komplett in den Wahnsinn. Ich raufte mir die Haare und stützte die Ellenbogen auf dem Tresen und den Kopf auf den Händen ab. Das leise Quietschen des Barhockers neben meinem blendete ich vollkommen aus und auch die sich entfernenden Schritte beachtete ich gar nicht.
Erst, als jemand sanft meine Schulter berührte, zuckte ich zusammen. Mit noch immer ernstem Gesicht sah Astra Black mich an, doch als sie leise seufzte, trat Mitgefühl in ihr Gesicht. Sie beugte sich ein wenig vor, als wollte sie, dass auch wirklich nur ich sie hörte.
"Was auch immer dich so sehr beschäftigt, lass dich davon nicht runterziehen. Es mag vielleicht für den Moment schwer sein, aber Dinge ändern sich. Sie bleiben nicht für immer schwer oder unerträglich."
Mit einem kleinen Lächeln, dass wohl aufheiternd wirken sollte, aber eher ein wenige gequält aussah, schlug sie mir sanft auf den Oberarm und wandte sich dann wieder ab.
Auch, wenn sie einfach wieder durch diese Tür verschwand, wie immer, wirkte sie doch nicht mehr so unnahbar und mysteriös, wie am Anfang. Es hatte sich angefühlt, als wusste sie, was ich durchmachte. So, als wäre sie selbst schon einmal an solch einem Punkt angekommen.
Möglicherweise waren Astra Blacks schwere, melancholische Songs ja doch nicht bloß reines Ideenreichtum. Vielleicht hatte sie all das selbst erlebt und das war ihr Antrieb.

the most painful things  || kim namjoonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt