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Mirae war am frühen Abend noch immer nicht aus der Stadt zurück und ich konnte mich weder auf mein Manuskript, noch auf irgendetwas anderes konzentrieren. Wie ein Verrückter schaute ich immer mal wieder aus dem Fenster im Wohnzimmer oder in der Küche, manchmal setzte ich mich in den Garten, in der Hoffnung, dort weiterschreiben zu können, aber die ganze Zeit konnte ich mich nur fragen, wo Mirae steckte. Ich wollte mit ihr Zeit verbringen, vielleicht noch einen Film mit ihr schauen, mir das Kochen von ihr beibringen lassen oder ihrem Ukulele-Spiel zuhören. Aber sie kam auch dann nicht, als es bereits halb acht war und über dem Dorf eine so angenehme Stille lag, dass sie mir bereits wieder unangenehm war. Plötzlich wusste ich nicht mehr, was ich mit mir anfangen sollte, während sie nicht da war, aber allen voran machte ich mir Sorgen. Nach ihrer Panikattacke gestern hatte sie heute schon wieder viel besser ausgesehen und größtenteils ziemlich unbeschwert gewirkt, wenn sie auch an diesem Morgen ziemlich gestresst gewesen war. Kurzentschlossen schrieb ich ihr.
"Hey, weißt du schon, wann du zurückkommst?"
Keine Ahnung, ob diese Frage zu unverschämt und drängend klang, aber es war das, was ich unbedingt wissen wollte. Ihre Antwort kam beinahe sofort.
"Ich bin noch etwas unterwegs und esse noch etwas, bevor ich zurückkomme. Du musst nicht auf mich warten. Wie war dein Tag?"
Es ernüchterte mich ein wenig, dass sie wohl erst spät zurückkommen würde, aber gleichzeitig war ich erstaunt, dass sie mich nach meinem Tag fragte. Doch mehr noch ließ es mein Herz höher Schlagen und ich berichtete ihr davon, wie langweilig es ohne sie war, auch wenn das Zusammentreffen mit Cho Yejin eine Ausnahme gewesen war.

Nachdem ich das Gespräch zwischen der Musiklehrerin und der wütenden Mutter mitbekommen hatte und sie mir daraufhin von den anderen Eltern erzählt hatte, die ihre Kinder zu etwas drängten, was sie nicht wollten, hatte sie nur ein Klavierstück nach dem anderen gespielt und ihren Gedanken hinterhergehangen, bis sie sich um den nächsten Schüler hatte kümmern müssen. So lange war ich neben ihr sitzen geblieben, denn ich konnte mich nicht von ihrem Klavierspiel lösen, welches eine Mischung aus bekannten und aus neuen, eigenen Stücken gewesen sein musste. Sie schrieb also auch eigene Songs, machte eigene Musik, wie Astra Black. Nur auf eine andere Weise, aber genauso traurig und wütend.
Warum taten sich immer wieder diese Parallelen auf? Steckte vielleicht mehr hinter der Geschichte von Cho Yejin, die angeblich Astra Black ausfindig gemacht und an Sashi vermittelt hatte? Allerdings sieht man die beiden nie zusammen und auch so sieht es nicht danach aus, als wären die beiden befreundet oder würden zusammenarbeiten. Dennoch kam es mir komisch vor. Diese Gemeinsamkeiten, diese Ähnlichkeiten, aber auch diese Unterschiede, die diese Frauen so prägten.
Das Summen meines Handys riss mich aus meinen Gedanken.
"Hast du Lust mir Gesellschaft zu leisten, wenn ich zurückfahre? Es ist immer so langweilig, in diesem langsamen Bus herumzutuckern."
"Wie soll ich dir dabei denn Gesellschaft leisten?", schrieb ich zurück. Mir entkam ein belustigtes Schnauben. "Soll ich etwa in die Stadt fahren und dich abpassen, damit wir gemeinsam wieder zurückfahren können?"
"Das wäre sicherlich witzig, aber nicht so gut für die Umwelt und reine Zeitverschwendung für dich. Wenn wir uns schreiben, reicht das fürs erste." Ich stellte mir vor, wie sie ihr Handy anlächelte, genauso, wie ich es gerade tat.
"Na schön, aber ich wäre auch für dich in die Stadt gefahren, um dich abzuholen."
"Du bist verrückt." Der Smiley hinter ihrer Nachricht machte mir deutlich, dass sie es amüsant fand, aber es war mein voller Ernst, ich wäre wirklich sofort in den nächsten Bus gestiegen, wenn sie mich darum gebeten hätte.

Unsere Chatkonversation unterbrach sich immer wieder, als Mirae gerade in einem Restaurant saß. Ich musste irgendetwas unternehmen, um die Zeit zwischen ihren Nachrichten zu überbrücken, denn ansonsten saß ich nur auf meiner Couch herum und wartete wie ein Verdurstender. Und Durst hatte ich wirklich, also entschloss ich, für eine Weile in Sashis Bar zu gehen, in der heute wieder einiges los war, obwohl es mitten in der Woche war.
"Hey, Sashi", begrüßte ich den Barkeeper und Besitzer und bestellte ein Wasser.
Die Stimmung war ziemlich ausgelassen und es tummelten sich bereits einige Leute um die noch unbesetzte Bühne und warteten gespannt.
"Astra lässt heute ziemlich auf sich warten. Ich habe das Gefühl, sie wird hinten gar nicht mehr fertig", sagte Sashi zu mir, als er mir mein Wasser zuschob. Er hatte den Blick mit einem Stirnrunzeln erst zur Bühne und dann auf die Hintertür gerichtet. Ich folgte seinem Blick und in dem Moment wurde die Hintertür aufgestoßen und Astra Black erschien in in einem langen, schwarzen Kleid mit einem Schlitz an der Seite und legte sich noch während es Gangs auf die Bühne die Gitarre um.
Sie begann direkt ein Lied anzustimmen, ohne große Umschweife und ohne viel zu reden. Sie legte einfach los und während ihre Musik heute von so viel Wut, aber auch irgendetwas erleichterten und erschwinglichen geprägt war, zog ich mein Handy raus, um Mirae zu antworten, die in einer kurzen Abfolge ein paar Nachrichten versendet hatte. Sie hatte sich auf den Weg zur Bushaltestelle gemacht, nachdem sie ihr kleines Abendessen gegessen hatte und wartete nun auf den Bus.
Nachdem ich ihr geantwortet hatte, erreichte mich erst einmal wieder für ein paar Minuten keine Nachricht, bis dann Astra Black eine Pause einlegte, um etwas zu trinken. Sie hatte sich auf den Hocker auf der Bühne gesetzt, die Wasserflasche in der Hand und den Blick zur anderen Seite gerichtet. Einer der Zuschauer sprach sie an.

"Es ist ganz schön kalt", schrieb sie.
"Hätte ich doch kommen sollen? Ich hätte dir eine Jacke mitbringen können." Ich schmunzelte. Oder ich hätte sie an mich drücken können, bis ihr wieder warm gewesen wäre.
"Du wärst wirklich gerne gekommen, oder? Das nächste Mal gehe ich vielleicht auf dein Angebot ein. Aber jetzt kommt mein Bus, ich muss eben einsteigen."
Die Sängerin auf der Bühne nahm einen letzten Schluck aus ihrer Wasserflasche, steckte sich irgendeinen schwarzen Gegenstand in den Stiefel und griff dann erneut zu ihrer Gitarre. Erst jetzt fiel mir auf, wie schlicht Astra Black heute für ihre Verhältnisse war. Die blauen Haare hatte sie zu lockeren Zöpfen geflochten und der Lidschatten, der sich sonst immer dunkel von ihrem Gesicht abhob, war heute um einiges blasser. Von hier aus konnte ich ihn kaum sehen, sonst war das kein Problem. Durch das schlichtere Makeup wirkte das Gesicht der Sängerin von hier aus viel reiner und unschuldiger. Ganz anders und irgendwie, als wäre es nicht ganz sie.
Ich konzentrierte mich nun ganz auf ihren Auftritt, da Mirae mir auf meine letzte Nachricht noch nicht geantwortet hatte. Und dann, beim nächsten Song, erkannte ich eine Melodie, die ich vor Kurzem erst gehört hatte und bei der ich besonders aufgepasst hatte, weil ich sie noch nicht gehört hatte. Sie klang ein wenig anders, als auf dem Klavier, aber es war unverkennbar eines der Stücke, die Cho Yejin gespielt hatte, während sie ihren Gedanken hinterhergehangen hatte.

Ich stand von meinem Barhocker auf, drängte mich durch die Menschenmenge, bis ich beinahe ganz vorne Stand. Ich konnte sogar ein kleines Tattoo auf Astra Blacks Knie ausmachen, nur das Motiv erkannte ich nicht, da mein Blick nicht lange genug daran hängen blieb, um es in dem schummrigen blauen Licht richtig zu erfassen.
Als ich das Gesicht der jungen Sängerin erreichte, wusste ich nicht, ob ich es mir einbildete oder ob ihr Makeup wirklich so eine erhebliche Veränderung ausmachen konnte, aber sie sah der Musiklehrerin dieses Dorfes plötzlich wirklich ähnlich. Die Augen hatten die selbe Form, mit der Art, wie sie ihren Lidstrich gezogen hatte und es war plötzlich unverkennbar, wie ähnlich ihre Gesichtsform der von Cho Yejin war. Und wo war dieser gefährlich-freche, aber mysteriöse Blick, den Astra immer zur Schau trug? Sie trug bloß ein sanftes Lächeln auf den Lippen, während sie einen Song sang, dessen Text ich nicht verfolgte, aber dieses Lächeln sah genauso aus, wie das, das Cho Yejin immer lächelte.
Astra Black war Cho Yejin. Oder Cho Yejin war Astra Black. Ich fragte mich, wie ich das die ganze Zeit hatte übersehen und vor allem überhören können. Jetzt, wo es mir deutlich wurde, klangen ihre Stimmen ähnlich. Nicht gleich, denn die Dynamik war eine andere, aber wenn man sich nicht auf die Art des Gesangs konzentrierte, sondern nur auf den Klang der Stimme, dann war es kaum zu überhören.
Ich konnte meinen Augen und Ohren nicht trauen, wie hatte sie es so lange verbergen können? Wie konnte es nicht schon längst jemand wissen?
Als sie mich in der Menge ausmachte und meinen Blick erhaschte, verzog sie kurz, beinahe unbemerkt das Gesicht und wandte sich dann schnell ab. Sie hatte es mir angesehen, dass ich es rausbekommen habe und sie scheint geahnt zu haben, dass es irgendwann passierte. Vielleicht hatte sie ja sogar nur darauf gewartet. Aber warum?



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the most painful things  || kim namjoonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt