13 - 'Verstand und Gefühl'

65 10 65
                                    

Lukes und mein Blick kreuzten sich in diesem Moment, als ich im Raum für Literatur Platz nahm. Gefühlskalt strich ich mir meinen Rucksack von den Schultern und stellte ihn neben dem Tisch ab. Ein paar Reihen hinter mir setzte sich Luke hin. Seine Mimik wirkte aufgebraucht und wütend, was keine Vermutung darstellte, sondern die Wahrheit.

Gestern hatte er mich noch einmal wissen lassen, wie gefährlich das gewesen war und sich dabei aufgeführt, wie ein kontrollsüchtiger Vater. Daraufhin habe ich ihm ganz klar gesagt, dass ich nicht auf seine Hilfe angewiesen wäre und er mich in Ruhe lassen solle. Damit war das Thema abgeschlossen. Natürlich hatte ich die Mutprobe nicht bestanden, dank ihm. Sicherlich hätte ich es geschafft, wenn er mich nicht von der Gleise gestoßen hätte.

***

"Guten Morgen, liebe Klasse", begrüßte Mister Harris uns voller Freude, als hätte er irgendein Gas zum Frühstück gegessen, das den ganzen Tag sorgloses Denken versprach. - "Heute habe ich euch ein ganz besonderes Buch mitgebracht. Vielleicht kann jemand schon davon erzählen, bevor ihr es als Hausaufgabe aufbekommt zu lesen."

Er hielt ein Taschenbuch in die Luft mit einem schlicht gehaltenen Cover, das eine Frau gekleidet aus dem frühen 19. Jahrhundert, zeigte. Ebenfalls erkennbar zu lesen war Verstand und Gefühl von Jane Austen. Mein Herz machte einen Seitensprung. Schlagartig musste ich mich zurückerinnern, als ich das Buch zum ersten Mal in der Hand gehalten hatte. Ich musste damals noch zehn Jahre alt gewesen sein. Jedenfalls hat es mich verzaubert und mich zu Stolz und Vorurteil inspiriert.

"Also. Verstand und Gefühl. Kann mir jemand etwas sagen?", wollte Mister Harris wissen und schaute erwartungsvoll in die Runde, die sich wieder einmal dem Boden widmete.

Ich riss die Hand nach oben, weil es wohl sonst niemand getan hätte. Wie konnte man sich bitte für einen Literaturkurs einschreiben, wenn man sich sowieso nie beteiligte?

Mister Harris Augen galten allein mir, sodass ich sofort anfangen konnte, über das Buch zu schwärmen: "Es ist mindestens genauso gut wie Stolz und Vorurteil. Ein verliebter Oberst tischt der jungen Marianne Dashwood eine Lüge über ihren Liebhaber Willoughby auf, nur damit er sie heiraten kann."

"Und welche Lüge war das?", fragte Mister Harris.

"Nun, Willoughby soll die Tochter seiner Jungendliebe Eliza verführt und dann schwanger sitzen gelassen haben und der Oberst will Marianne weiß machen, dass Willoughby dasselbe mit ihr vorhat. Damit kommt er auch durch, sodass Marianne am Ende den Oberst heiratet. Zuerst mit einem Gefühl der Wertschätzung, allerdings wird es erst später zu Liebe. "

"Und was hälst du von seinem Verhalten, Jennifer?", erweiterte Mister Harris das Gespräch.

"Ich denke, dass der Oberst ihr keine Lüge hätte erzählen sollen, nur um sie von Willoughby zu lösen. Er hätte ihr die Wahrheit erzählen und seine Liebe gestehen sollen. Oder sich aus der Liebesangelegenheit raushalten sollen. Er wusste schließlich, dass Marianne Willoughby wirklich liebte und er sie. Und..."

In diesem Moment wurde ich auf einmal von einer anderen Stimme unterbrochen, die fast schon zornig erklang: "Ich denke, der Oberst hat das richtige getan."

Ich drehte mich schnell um, um die Person zu sehen, die sich das erste Mal seit meiner Ankunft im Literaturkurs beteiligen wollte. Ich hatte mich mittlerweile an einer Abwechslung von meiner und Mister Harris Stimme gewöhnt, dass es schon beinah ein Privileg war, jemand anderes in diesem Raum zu hören. Mister Harris deutete auf ihn und war sichtlich erstaunt darüber, dass es erstmalig in diesem Halbjahr eine Diskussion über ein Buch gab.

"Luke. Kannst du das genauer schildern?"

"Der Oberst hat Marianne vor einer bitteren Enttäuschung und einem falschen Spiel Willoughbys Seite bewahrt. Es diente alleine ihrer Sicherheit. Und sicherlich hatte Willoughby immer noch Gefühle für Eliza. Marianne hat auf den Oberst gehört und es ist schließlich Liebe geworden, was will man mehr?", beantwortete Luke Mister Harris Bitte.

See the truth | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt