40 - Bücherparadies

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"Was für ein toller erster Ferientag."

Ich hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schaute hinaus. Die Regentropfen prasselten an Lukes Scheibe.

"Versuch's positiv zu sehen. Wir haben uns. Der Regen applaudiert uns sogar."

Auf meinen schrägen Blick hin erwiderte er: "Schließ die Augen."

Ich tat's. Schritte näherten sich mir. Zwei Arme umschlangen meinen Körper und ein warmer Atem strich meinen Nacken.

"Hörst du's?"

Ich hielt kurz inne. Einige Sekunden der Stille, verbunden mit leisem Prasseln.

"Ja, du hast recht."

Der Regen schlug an die Scheibe, wie Applaus. Irgendwie lustig, das so zu hören.

Ich schlug die Augen wieder auf und blickte geradeaus in mein Zimmer. Mir fiel ein, dass ich schon wieder vergessen hatte, meinen Eltern Bescheid zu geben, dass ich die Nacht nicht da gewesen war. Ob sie bereits irgendwie Wind davon bekommen hatten? Ich bezweifelte das.

Als könnte Luke meine Gedanken lesen, schilderte er seinen ultimativen Plan des Tages. - "Lust, meine kleine Schwester zu besuchen?"

"Ist die nicht in der Bücherei?"

"Ja. Sie würde sich sicherlich darüber freuen. Außerdem könnte ich dir dann einige Klassiker zeigen, die du sicherlich noch nicht kennst."

"Klar. Das glaubst auch nur du. Ich kenne mindestens doppelt so viele Klassiker als du."

"Wir werden sehen." - Sein Lächeln war bezaubernd. In Wahrheit war es eigentlich gar keine schlechte Idee, die Bücherei aufzusuchen. Ich wollte sie sowieso noch besuchen fahren, wobei ich kein einziges Mal seit dem Umzug dort gewesen war.

"Musst du nicht noch deinen Eltern von unserem Unternehmen erzählen?", bemerkte Luke. Er konnte wirklich meine Gedanken lesen. Ich schaute erneut zum Fenster hinaus, sah den Regen und beschloss, dass ich am allerwenigsten jetzt dort hinaus wollte, um stundenlang zu erklären, weshalb ich voraussichtlich bis Spätabend nicht da sein würde.

Also bat ich Luke bloß um einen kleinen Gefallen. - "Hast du einen Fensterstift für mich?"

Natürlich hatte er den. Er griff in eine Schublade seines Schreibtisches, zog einen blauen Stift heraus und überreichte ihn mir dann.

Mit dunkelblauer Schrift schrieb ich in Großbuchstaben: "Bin den ganzen Tag in der Bücherei. LG Jenny." - Um die wahrscheinliche Wut meiner Eltern etwas mildern zu können, setzte ich neben die Schrift ein übernatürlich großes Herz.

"Wir können. Ich mach' deine Scheibe später noch sauber."

Ich schnappte mir mein Handy, Lukes Hand und schon waren wir fünfzehn Minuten später in der größten Bibliothek, die ich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Die Bücher stapelten sich meterhoch und in jedem der fünfundzwanzig Gänge im ersten Stock stand jeweils eine Sitzbank. Überraschenderweise war an jeder Ecke etwas los und trotzdem glich die Stille hier der aus dem Literaturunterricht.

Luke legte einen Finger auf den Mund. Das sah allerdings so albernd aus, dass ich leise kichern musste.

"Wie ich Marilyn kenne, verbirgt sie sich in der wissenschaftlichen Abteilung", flüsterte er und ging voraus.

"Ich dachte, sie würde nachts lesen und am Tag schlafen", erinnerte ich mich an die Information, die er mir einst aufgedrückt hatte.

"Das ist nicht immer so. Es kommt drauf an, ob sie zu Hause ist oder nicht. Wenn nicht, ist sie zu einhundert Prozent hier. Sie kommt auch sehr lange ohne Schlaf aus."

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