Der neue Tag begann für mich sehr früh. Ich stand vor meinen Eltern auf und war schon unterwegs, als sie sich gerade die Augen vor lauter Müdigkeit rieben.
Dies tat ich mir nur an, um Oliver, Cathrin und ihrer Gang nicht zu begegnen. Zumindest nicht vor der ersten Stunde. Ich konnte mich allein jetzt schon durch meine Gedanken nicht konzentrieren, die ständig riefen, dass ich mehr von Oliver wollte. Ich wollte mich als seine gute Freundin bezeichnen dürfen und wenn ich das dachte, meinte ich eigentlich mehr als das.
Cathrin wollte ich zudem sowieso nicht begegnen. Was, wenn Oliver ihr schon längst von unserer Zeit alleine erzählt hatte?
Nein, das glaubte ich nicht. Dann wäre sie sicherlich schon auf hundertachtzig und hätte mir längst die Haare ausgerissen. Und das wäre das Harmloseste, was ich ihr zutrauen würde.
Da mir heute einmal genug Zeit zur Verfügung stand, den richtigen Klassenraum aufzufinden, in dem ich Literatur hatte, genoss ich die Stille im Gebäude. Kaum ein Schüler war in der High School zu sehen, lediglich ein paar, die durch den Bus nicht später kommen konnten.
Auch wenn Mister Harris mir geraten hatte, mich weiter nach vorne zu setzen, beließ ich es vorerst in der Mitte. Ich wollte nicht die Streberin sein, die sich jedes Mal einen Platz ganz vorne ergattern wollte, damit der Lehrer aufmerksamer auf sie wurde.
Nach wenigen Minuten füllte sich der Raum langsam. Es kamen die Durchschnittsschüler, die nichts zu erzählen hatten, sich still auf ihre Plätze begaben und auf den Lehrer warteten.
Kurz vor Unterrichtsbeginn, vielleicht drei Minuten davor, erkannte ich Cathrin, die sich samt ihrer schlechten Laune auf einen der Stühle in der vorderen Reihe begab, dicht gefolgt von ihren Mädchen, die, wie ich fand, ihre Anhängsel verkörperten. Überall wo sie hinging, folgten ihr die zwei.
Mister Harris kam herein, stellte seine Aktentasche auf den Tisch und begrüßte die Klasse, die stillschweigend in die Luft schaute. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich wieder diejenige sein würde, die als Einzige dem Unterricht folgen und eigene Beiträge dazu leisten würde.
Mein Lehrer schnitt das erste Thema für heute an. Wieder einmal ging es um Stolz und Vorurteil von Jane Austen und die Reaktion, die das Buch in England und dem Rest der Welt im 19. Jahrhundert ausgelöst hatte.
Die Stunde verging wie im Flug. Ich zog den Unterricht allein mit Mister Harris durch, während von den anderen kaum ein Piep noch ein Papp zu hören war.
Am Ende der Stunde schien die Zeit eine kleine Pause einzulegen. Gebannt starrte ich auf die Uhr, die sich über der Klassentür befand und zählte die Sekunden herunter, in der Mister Harris nur Wissen vermittelte, das ich längst kannte und wusste.
Es verblieb lediglich eine Minute bis zur Pause. In meinem Kopf plante ich bereits die Schritte, den Klassenraum unbemerkt zu verlassen und mich still und heimlich in die letzte Ecke während der Pause zurückzuziehen.
***
Mit der Pausenklingel stürmten die Schüler wieder auf den überfüllten Flur. Chaos und Lärm brachen aus.
Eigentlich wollte ich eine Begegnung mit Oliver vermeiden, doch das ließ er sich nicht bis zum Ende des Schultages gefallen.
"Hey", rief Oliver mir hinterher, als ich schon auf dem langen Gang unterwegs zur Cafeteria war. Gespielt lächelte ich, als wäre nichts zwischen uns jemals vorgefallen und drehte mich zu ihm um: "Hi, ähm...ist Cathrin nicht bei dir?" - Suchend blickte ich hinter ihn.
"Nein, die müsste aber gleich kommen", sein Gesicht wurde freundlicher und auch zugegebenermaßen süß: "Also."
Mein Herz setzte aus. Wollte er jetzt wirklich das Thema vor aller Öffentlichkeit ansprechen?
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See the truth | ✓
Novela JuvenilJennifer denkt nicht im Entferntesten daran, dass sich ihr Leben um hundertachtzig Grad drehen könnte. Ihre Heimat segelte zuvor immer auf den Wellen. Nach ihrem Umzug in die Kleinstadt Elizabeth City gerät ihr vorgeplantes Leben auf den Weltmeeren...