21 - Der Aufmunterungsversuch

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Der Abend verlief anders, als ich es erwartet hatte. Nachdem ich mir eine volle Kanne Tee gekocht hatte und in mein Bett gekrochen war, schloss ich die Augen.

Es war ein neues Bett, das Mom und Dad mir vor einer Woche bestellt hatten und nun angekommen war. Es war nicht halb so gemütlich wie mein altes - die Matratze fühlte sich viel härter an, sodass ich befürchtete, ich würde mit einem gebrochenen Rücken am nächsten Tag aufwachen.

Eigentlich dachte ich, ich würde einfach unter der Bettdecke liegen, meinen Tee schlürfen und dabei weinen oder wenigstens im Kopf alles durchwühlen, was mir dabei half, noch mehr Depressionen zu bekommen. - Doch es kam anders. Ich weinte nicht, vergaß meinen Tee in der Tasse, woraufhin er kalt wurde und lauschte bloß emotionslos dem Gerede meiner Eltern unten im Wohnzimmer zu, wie sie freudig über den ersten Tag auf ihrer neuen Arbeit erzählten. Ich wollte sie nicht mehr sehen. Vielleicht war es das Beste, einfach abzuhauen und alles hinter mir zu lassen, weil ich dieses Getöse nicht mehr ertrug. - Doch ich ignorierte jegliche Gedanken daran und hörte nur den abfallenden und wieder aufsteigenden Stimmen zu.

Die Stunden vergingen. Ich wusste nicht, ob es bereits dunkel war, denn ich besaß keinerlei Zeitgefühl mehr. Doch mein Bauch sagte mir, dass die Dämmerung längst vorüber sein musste.

Plötzlich nahm ich ein leises Bum, Bum, Bum irgendwo wahr. Es war nicht besonders laut. Wäre Musik in meinem Zimmer gelaufen, hätte man dieses flüsternde Geräusch wohl einfach ignoriert oder nicht einmal mitbekommen.

Ich schlug die Decke über mir auf und starrte hinaus zum Fenster in die dunkle kalte Nacht. Immer noch dieses Geräusch, aber ich konnte nichts ungewöhnliches erkennen.

Also stand ich auf und luckte zum Fenster hinaus. - Nichts.
Ich gestattete mir, das Fester aufzumachen und zu schauen, ob jemand vielleicht unten Holz hackte. - Doch auch da war niemand zu sehen.

Ich lauschte wieder. Das Geräusch war weg. Stattdessen traf mich irgendein kleines Ding am Kinn. Womöglich ein Kisselstein oder so etwas in der Art.
Mit einem Aua hielt ich mir eine Hand an die Unfallstelle und bemerkte auf einmal Licht gegenüber meines abgedunkelten Zimmers. Die Villa, aus dem das Licht trat, war von weißen Fassaden geschmückt und viel größer als unsere.

Ich kniff die Augen etwas weiter zusammen und lehnte mich auf der Fensterbank auf, um mehr zu erkennen. Dabei rutschte ich beinah auf einer der Stromleitungen aus, die noch nicht in den Boden eingebaut wurde. An dieses Haus würde ich mich niemals gewöhnen.

Zum Vorschein kam irgendeine Gestalt in einer Jogginghose, die mit den Armen rumfuchtelte, als müsste sie eine Fliege oder eine Biene verscheuchen, die immer zu um sie herum flog und ihr somit auf den Geist ging.

Die Gestalt schloss das Fenster, nachdem sie mich erblickt hatte und nahm sich dann einen Stift. In Großbuchstaben schrieb sie irgendeine Nummer an das Fenster.

Ich versuchte noch etwas genauer hinzusehen, um zu erkennen, wer mir da einen Streich spielen wollte - doch das Fenster war einfach zu weit weg und außerdem war es so dunkel, dass ich gerade einmal die Umrisse der Person ausfindig machen konnte.

Die Nummer fing mit null null eins an, von daher erkannte ich schnell, dass es sich hierbei um eine Handynummer handeln musste.
Sofort versuchte ich mein Handy in dem Gewusel aus Bettdecken zu finden, doch bedauernswerterweise blieb die Suche erfolglos. Erst als ich alle Bettdecken, die mir vor kurzem noch Obhut geboten hatten, fluchend auf den Boden umbettete, fand sich mein Handy wieder an. Ich wunderte mich, dass ich es nicht gleich gesehen hatte.

Schnell entschlüsselte ich die Nummer und tippte sie mit zittrigen Fingern ein. Dabei erinnerte ich mich an Luke, der mich auf sein Zimmer direkt gegenüber meines aufmerksam gemacht hatte.
Es war Luke in Jogginghose und...hatte er überhaupt noch mehr an?

Der Chat öffnete sich. Während ich der Nummer einen Namen in meinem Telefonbuch verlieh, stand in der Leiste unter der Nummer schreibt...

Nach einigen Minuten folgte die erste Nachricht.

Hey! Erinnerst du dich an mich? Bin der Typ, der dich nach Hause gefahren hat.

Als könnte ich das vegessen, wie ich trauernd in seinem Arm gelegen und er mich mit dem Pick-up nach Hause gefahren hatte. Die Schule hatte er mir damit erlaubt zu schwänzen. Er begründete dies damit, dass ich nicht in der Lage gewesen wäre, weiterhin dem Unterricht zu folgen.

Ja, die Erinnerung kommt langsam wieder hoch. Wieso schreibst du?


Wie geht's dir?


Ging schon Mal besser.

Danke fürs nach Hause fahren.


Hatte ja keine andere Möglichkeit.

Komm doch rüber. Ich kann dich auf andere Gedanken bringen.



Nein danke. Muss hier bleiben. Am besten siehst du mich in diesem Zustand gar nicht erst.


Wieso? Welcher Zustand?


Ich kann mich mit meinen Eltern gerade nicht so abfinden.


Wegen des Bootes?


Nicht nur deswegen. Es ist alles. Vorallem, dass sie mich nicht gefragt haben, ob ich überhaupt nach Elizabeth City will.


Die nächsten Minuten beobachtete ich ihn, wie er am Fenster einige Meter von meinem entfernt stand und die nächste Nachricht tippte. Ich war gespannt, was er darauf zu antworten wusste. Ich wüsste, was ich antworten würde: so egoistische Eltern.
In der Zeitspanne, in der er die Antwort eingegeben und ich sie auf meinem Handy erhalten hatte, schaute er mit beruhigendem Blick zu mir. Er sah müde und gelassen aus.
Wie gut, dass mein Zimmer dunkel war, sonst hätte er sicherlich mein feuchtes Gesicht gesehen und die dunklen Augenringe, die sich mit meinen roten Augen gut kombinieren ließen.

Ein Ping ließ mich erneut aprupt auf mein Handy schauen. Irgendwie hatte mich sein Blick beruhigt und schläfrig gemacht, sodass ich meiner Trance nur schwer entkommen konnte.

Ich finde, du solltest dich abregen. Es gibt so viel Schlimmeres auf der Welt.
Und außerdem kann eine Veränderung ein Neustart für ein besseres, neues Leben sein.

Ich realisierte diese Worte, als wären sie Zitate aus alten Büchern von weisen Gelehrten, die auf Ewig wahr sein würden.


Aber nicht diese Veränderung. Sie kam zu schnell und unbedacht. Danke, aber ich benötige bloß Zeit zum Nachdenken.


Klar. Komm einfach vorbei, wenn du nicht alleine sein oder auf andere Gedanken kommen willst.


Danke.


Damit ging ich offline. Ich verstand nicht, wie man Luke jemals hassen konnte. - Er war zwar manchmal stur, aber kümmerte sich auch um andere. Es war mir ein Rätsel.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es mir schon etwas besser ging, nachdem ich noch eine Weile über Lukes Worte nachgedacht hatte.

Natürlich hatte ich nicht vor, zu ihm zu gehen und ihn mit meinen eigenen Problemen zu nerven.
Ich ließ das Display verdunkeln und wartete noch für einige Sekunden am Fenster. Luke starrte noch für eine Weile auf sein Handy, bevor er anscheinend realisiert hatte, dass ich diesen Abend verabschieden wollte.

Sein Zimmer verdunkelte sich ebenfalls. Seine Gestalt war weg. Die Nummer, die die Fensterscheibe dekoriert hatte, verschwand in der Finsternis und alles, was blieb, war das Schimmern des Vollmondes am Himmel, der die Fassaden perfekt krönte und in silbernes Licht tauchte.

Damit legte ich mich wieder zurück in mein Bett und versuchte einzuschlafen. Meine Eltern verstummten im Hintergrund und alles, was ich jetzt noch hörte, war das leichte Beben meiner Brust, bis es nichts mehr außer die Finsternis gab.

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