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Die nächste Woche verging wie im Flug. Kein weiterer Besuch von den Detektiven, dafür aber umso mehr Untersuchungen vom Doktor und doppelt so viele Besuche von McCann. Josh hatte sich seit dem einen Abend nicht mehr blicken lassen. In seinen Ferien hatte er also doch besseres zu tun, als mich im Krankenhaus zu besuchen. Aber ich nahm es ihm nicht übel, auch wenn ich mich einsam fühlte ohne ihn. „Hörst du mir zu, Claire?" McCann und ich duzten uns. Besser fürs Arbeitsklima, hatte er gesagt. „Tschuldigung. War in Gedanken woanders." Er seufzte, lächelte dabei aber. "Ich lass es dir heute durchgehen, weil wir uns ab morgen ja nicht mehr sehen werden." Ich nickte abwesend, wartete ein paar Sekunden und blinzelte dann verwirrt, als mir der Groschen fiel. „Warte, was?" Er lachte leise über meine Reaktion. „Ja, Claire, die Kunst des Achtgeben." Ich wusste nicht, ob er sich einen Spaß erlaubt hatte, um mich aus meinen Gedanken zu holen oder ob er seine Worte ernst meinte, also fragte ich frustriert: „Aber wieso?" „Wieso das Achtgeben eine Kunst ist?" „Nein! Wieso wir uns ab morgen nicht mehr sehen werden natürlich!" „Morgen ist Sonntag." Er klang so gelassen, dass es mich verrückt machte. "Am Sonntag bin ich grundsätzlich nicht da."  War er denn von allen guten Geistern verlassen?  „Deine Entlassung, Claire." Jetzt sah er mich an, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen. "Hast du das vergessen?" Schockiert riss ich die Augen auf. „Entlassung? Ich dachte, die wäre erst in einer Woche? Und wieso werden wir uns dann nicht mehr sehen können? Ich dachte, ich hätte noch eine ganze Woche Zeit, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, in eine Einrichtung für betreutes Wohnen mit Problemkindern gesteckt zu werden, in dem es wahrscheinlich nur so von Psychopathen wimmeln wird, die...-" „Claire!" Ich sah auf. McCann stieß tief die Luft aus. „Mach dir nicht so viele Gedanken darüber. Es ist eine wirklich gute Einrichtung, vertrau mir. Die Bewohner sind sehr freundlich und der Kollege, der die Kids psychologisch betreut, ist ebenfalls ein ausgezeichneter Arzt." „Ja", gab ich missmutig zurück, „hast du mir alles schon erklärt. Der Superpsychologe." - Ich hatte diesen Mann gegoogelt, auf einem uralten Computer im Krankenhaus. Alaric war sein Name. Hatte viele Auszeichnungen bekommen. „Ich freu mich schon sehr darauf!" sagte ich und versuchte enthusiastisch zu klingen. McCann unterdrückte ein schmunzelndes Lachen und erhob sich schwerfällig. „Ich habe dir meine Karte gegeben, Claire. Falls etwas sein sollte, kannst du mich immer auf dieser Nummer erreichen. Vergiss das nicht." Ich nickte und schluckte schwer. Das Krankenhaus, die Schwester, McCann, selbst der Doktor, der sich morgens nur noch wenige Sekunden Blicken ließ, seitdem es mir besser ging - ich würde all das vermissen. Nicht, weil mir das Kranksein so sehr gefiel. Es war viel eher die Routine und die Leichtigkeit, nicht daran denken zu müssen, dass es außerhalb dieser vier Wände auch noch ein anderes Leben gab. Eins, das ich mir ganz neu erfinden musste. Immer in Gedanken, nicht in Gedanken zu sein. Damit das Wenige, das ich wusste, mich nicht einholte und übermannte. Ich hatte es niemandem erzählt, aber aus dem Frösteln war mittlerweile Übelkeit und Erbrechen geworden. Jedes Mal, wenn ich gedanklich in Richtung des Hauses im Wald schweifte, meistens nachts, wenn ich alleine war, musste ich mich übergeben. Schwester Nora dachte, ich würde das Medikament nicht vertragen, das mir verschrieben wurde, und hatte deshalb ein neues angeordnet. Gebracht hatte es nichts. „...alles bereits abgeklärt und deshalb sind wir auf die Idee gekommen." McCann hatte seinen Satz beendet, dessen Anfang ich nicht mitbekommen hatte, weil ich in Gedanken versunken war. Erneut. Ich musste lachen. „Was ist denn so lustig?" Er war ernsthaft verwirrt. Alles, was er nicht vorhersehen konnte und aus dem nichts kam, ließ ihn so verdattert dreinblicken, dass ich mich manchmal fragte, ob er überhaupt wirklich so gut in dem war, was er beruflich machte. Aber vielleicht war auch genau dass der Schlüssel zu seinem Erfolg. „Schon gut", sagte ich und wischte mir eine Lachträne fort. „Na, wenn das so ist." Skeptisch musterte er mich. „Freut mich, dass du dich so schnell mit deinem Schicksal abgefunden hast." Ich stöhnte und schlug mir die Hand auf die Stirn. "Erinner mich bloß nicht daran!"

Lost in a Perfect NightmareWo Geschichten leben. Entdecke jetzt