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Ayla

Ich beobachtete Claire, wie sie unauffällig die Party verließ, und verspürte das brennende Verlangen, ihr zu folgen. Ich wollte meiner eigenen Party entfliehen. So tief war ich gesunken. Said hatte gerade wieder für Musik gesorgt und allem Anschein nach die Unterhaltung vergessen, die wir zuvor geführt hatten, denn er stand nun mit Leyna am Rand der Tanzfläche und sprach mit ihr. Ich schaute mich um und sah Noah dabei zu, wie er sich wieder mit Marie von Claire abzulenken versuchte, auch wenn seine Versuche kläglich waren. Selbst ein Blinder konnte die Spannung zwischen Claire und ihm spüren. Und auch Marie bemerkte das. Noah schaute sich so oft nach ihr um, und niemand sonst schien die gezwungene Gelassenheit zu bemerken, die er seit seiner Ankunft aufrechterhalten wollte. Eric hingegen stand auffällig an der Bar und verfolgte jeden Zug, den Said und Leyna machten. Eifersüchtig wie er war, trank er ein Glas nach dem anderen von der Bowle, die Wally jede zwanzig Minuten mit Wodka auffüllte. Wally, der viel zu high war, um zu bemerken, dass es bereits die vierte Flasche war, die er leerte, oder er machte es absichtlich. Das würde jedenfalls den hinterlistigen Blick erklären, mit dem er Eric bei jedem Becher musterte. Letztlich war es Jake, der mich dazu veranlasste, Claires Beispiel zu folgen und die Party zu verlassen. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge und fokussierte einen der vielen Tische, die wir zuvor mit großer Mühe an die Wand gestellt hatten. Ich rollte mit den Augen und schlich mich zum Seitenausgang. Die Leute hinter mir fingen an zu grölen, und ich musste mich nicht umdrehen, um zu sehen, was der Grund dafür war. Jakes Twerkeinlage war für mich auf jeder Party ein Grund zu verschwinden.


Claire

Ich setzte mich auf einen kleinen, abgelegenen Platz in Aylas Garten und lauschte den gedämpften Bässen, die kurz nach meinem Abgang erneut anfingen zu dröhnen. Ich würde hier eine Weile sitzen und warten, bis die Party ihr Ende fand. Irgendwann würde sich Leyna bemerkbar machen und mir von ihrer erfolgreich überstandenen Partynacht erzählen, die ihr zu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit nicht gefallen hatte, weil Eric sie genervt, Said sie ignoriert und Ayla sie blamiert hatte. Ich fing an zu lachen und wunderte mich über meine fiesen Gedanken. "Alles okay bei dir? Was ist so lustig?" Ayla setzte sich neben mich und musterte mich fragend. "Ach nichts, hab nur ein wenig nachgedacht." Sie nickte, und einen Moment lang sagte keiner von uns etwas. Ich biss mir auf die Oberlippe und überlegte, was ich als Ausrede benutzen konnte, um schnell und trotzdem höflich zu verschwinden, doch Ayla kam mir zuvor. "Ich setze mich auch immer hier raus, wenn ich nachdenken will." Sie fuhr mit dem Schuh das Muster auf dem Boden entlang. "Ich wollte dich nicht stören, ich brauchte bloß ein bisschen Ruhe..." "Du möchtest eine Auszeit von deiner eigenen Party?" Ich machte ein erstauntes Gesicht. "Du findest sie doch nicht etwa genauso langweilig wie ich?" "Ich würde sie eher als anstrengend bezeichnen," erwiderte sie. "Nur kann ich leider nicht so lange wegbleiben. Irgendjemand wird bemerken, dass ich weg bin und mich suchen." Ayla seufzte, genervt davon, dass sich jemand überhaupt die Mühe machte. "Wie traurig..." sagte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. "Ich glaube, du verstehst nicht ganz," sagte sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen. "Jemand wird mich suchen und fragen, wo die Kondome sind, wo ich den teuren Wein meiner Eltern verstecke oder ob es wirklich okay ist, das Sofa vollzukotzen. Niemand vermisst mich auf dieser Party." "Oh..." machte ich. "Na ja, sehen wir es positiv. Immerhin wirst du überhaupt gesucht." "Manchmal möchte ich aber nicht gefunden werden." Sie starrte auf den hellen Vollmond, der ab und zu hinter der Schicht pechschwarzer Wolken hervorblickte. "Was meinst du damit?" fragte ich und folgte ihrem Blick. "Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir zu erzählen, was es mit den ganzen Bildern bei mir zuhause auf sich hat," sagte sie und umging somit meine vorherige Frage. "Du wolltest doch wissen, warum meine Mutter immer so traurig aussieht." "Ja..., schon." Sie schaute mich immer noch nicht an. "Aber wenn du nicht darüber reden willst, musst du das nicht." "Dir ist bestimmt auch aufgefallen, wie unsympathisch mein Vater aussieht..." Sie stieß einen sarkastischen Lacher aus. "Früher, als ich kleiner war, hatte meine Mutter noch keine Probleme mit ihm. Mein Vater und sie waren wie füreinander geschaffen. Er liebte sie und sie liebte ihn. So wirkte es jedenfalls von außen." Ich musterte sie neugierig. Ich wünschte, ich könnte sehen, was gerade in ihrem Kopf vor sich ging. "Irgendwann hörte das einfach auf. Mein Vater kandidierte und gewann die Wahlen. Er hatte immer weniger Zeit für uns. Er benahm sich immer seltsamer und meine Mutter begann, sich von ihm abzuwenden. Nicht nur von ihm, sondern auch von mir. Von außen hin sind wir immer noch die perfekte Vorzeigefamilie. Der Bürgermeister, seine wunderschöne Frau und seine liebreizende Tochter." Ich nickte, um meine Beteiligung an dem Gespräch zu verdeutlichen, doch sie bemerkte es kaum. "Meine Mutter ist wie kristallklares Eis," sagte sie voller Ruhe. "Schön anzusehen, nahezu perfekt... doch wer versucht, ihr nah zu kommen, schneidet sich an den scharfen, zu Waffen geformten und kalten Kanten. Einmal hörte ich sie streiten. Es ging dabei um etwas total Unrelevantes. Und dann schlug er sie. Es ging alles so verdammt schnell... Ich sah, wie perplex mein Vater seine Hand anstarrte und wie meine Mutter mit ausdrucksloser Miene aus dem Zimmer ging. Direkt an mir vorbei. Ich war wie Luft für sie und ich blieb Luft. Für beide. Tja, und eines Morgens verschwand sie einfach. Sie war einfach weg." "Wie alt warst du da?" fragte ich leise. "Ungefähr zwei." "Aber sie ist doch wieder da, deine Mutter. Ich hab sie gesehen. Sie stand auf der Bühne und hielt diese Rede. An dem Tag, an dem ihr mich zu deinem Ferienhaus geschleppt habt." "Sie ist ein Jahr später wieder aufgetaucht. Die beiden sprechen seitdem nicht mehr miteinander. Kein einziges Wort. Und ich bin immer noch Luft. Mit meinem Vater möchte ich so wenig wie möglich zu tun haben. Manchmal habe ich wirklich Angst vor ihm. Kein Wunder, dass meine Eltern in getrennten Zimmern schlafen." Ich starrte Ayla wortlos an. Es war egoistisch von mir, dass meine Gedanken von ihrer Angst vor ihrem Vater zu meiner Akte schweiften und mir eine Gänsehaut bereiteten. "Wie schaffst du es trotz der ganzen Sache, so ein Miststück zu sein?" fragte ich und hob einen Mundwinkel, um ihr zu signalisieren, dass ich sie auf den Arm nahm. Ayla hob verschwörerisch die Brauen. "Vielleicht ist genau das ja der Grund." Ich fing an zu lachen und sie stimmte mit ein. Für einen klitzekleinen Moment fühlte es sich so an, als würde ich mich vollständig fühlen. Als hätte irgendwas in mir gefehlt und nur auf diesen Moment gewartet, um es mir genau jetzt deutlich zu machen. Ich dachte an Josh und seine Puzzle-Theorie, als das krachende Geräusch eines zerbrechenden Fensters mir dieses vollkommene Gefühl genauso schnell wieder nahm, wie es gekommen war. Ayla sprang erschrocken auf und formte ihre Augen zu Schlitzen. "Das war dann wohl mein Stichwort." "Und das sogar ohne, dass jemand nach dir suchen musste." Ich lächelte schief und sie seufzte. "Dass jemand das Sofa vollkotzt, wäre mir lieber gewesen." Ayla schaute auf mich herunter. "Kommst du mit?" Ich schüttelte den Kopf und sie nickte verständnisvoll. "Na dann, man sieht sich." Sie drehte sich von mir weg und ich schaute ihr hinterher. "Hey, Ayla!" "Hm?" Sie schaute über die Schulter und unsere Blicke trafen sich. "Fragst du dich eigentlich manchmal, warum?" "Was meinst du?" Sie sah ernst aus, während sie auf meine Antwort wartete. "Warum du." Sie atmete tief aus. "Jeden einzelnen Tag." Ich nickte und stand ebenfalls auf. "Wohin gehst du?" Sie drehte sich nun mit ihrem ganzen Körper zu mir. "Es ist schon spät und ich möchte nach Hause." "Okay." Sie legte ihren Kopf zur Seite. "Zu dir nach Hause geht es dort lang." Sie zeigte mit dem Finger in die Richtung, in die sie selbst gerade gehen wollte. "Ich weiß," sagte ich und musste schmunzeln als ich ihr meine nächste Frage stellte: "Hast du zufällig etwas Kleingeld für den Bus dabei?"

Lost in a Perfect NightmareWo Geschichten leben. Entdecke jetzt