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Den ganzen Samstag war ich allein zu Hause. Noah und seine Freunde waren nicht da, und somit hatte ich das ganze Haus für mich. Ich schlief fast bis 14 Uhr, aß etwas, ging zum ersten Mal allein im Pool schwimmen und machte mich erst Stunden später fertig. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr Langeweile keimte in mir auf. Ich entschied mich also spontan, spazieren zu gehen und die Gegend zu erkunden, ohne Josh. Ich war immer noch sauer auf ihn, versuchte mich aber nicht all zu sehr in diese Wut hineinzusteigern. Ich packte mir ein wenig Proviant in die Tasche, schloss das Haus ab und lief dann eine ganze Weile ziellos umher. Ich fand an einer kleinen Seitenstraße einen engen, nicht asphaltierten Weg, der stark bewachsen war. Der Rasen war trocken und die Bäume alt und wunderschön. Es schien, als würde der Weg in einen verwunschenen alten Wald führen. Die Sonne war bereits dabei unterzugehen, und es wurde langsam dunkel. Es wäre klug gewesen, sich auf den Rückweg zu machen, doch es kam mir so vor, als würde dieser Wald mich rufen. Er sah so interessant und mysteriös aus. Der starke Geruch, den der Wald ausströmte, überwältigte mich. Die Bäume standen dicht beieinander, und ich lief immer tiefer hinein. Es gab viele Kreuzungen. Nach Gefühl ging ich in die Richtung, die mir gerade am meisten zusagte.  Nach einer Weile wurde es kühl, und ich schlang meine Arme um meinen Oberkörper, um ein Zittern zu unterdrücken. Ich lief schneller, um die stechende Kälte auszublenden, eilte voraus und kletterte über einen am Boden liegenden Baumstamm. Ich quetschte mich durch eine kleine Lücke im Gestrüpp. Stirnrunzelnd begutachtete ich den Abschnitt des Waldes, den ich nun entdeckt hatte. Ich war umgeben von einem satten Grün der Wiese. Verschiedenfarbige Blumen wogen sich sanft im Wind. Die Bäume am Rand standen dichter beieinander und bildeten einen großen Kreis. Das letzte Licht des Tages wirkte durch die Eingrenzung der Bäume noch heller und ließ alles lebendiger wirken. Der Anblick ließ mich erschaudern, und ich musste anfangen zu lächeln. Diese Lichtung war wunderschön. Ich setzte mich auf die Wiese, holte mir das Sandwich, das ich als Proviant mitgenommen hatte, aus meiner Tasche und saß eine ganze Weile bloß da, und ließ die Lichtung auf mich wirken. Doch so schön es hier auch war, es wurde Zeit zu gehen. Es wurde immer kühler, und der Wind ließ mich frösteln. Seufzend machte ich mich auf den Weg zurück und ließ diesen wunderschönen Ort hinter mich. Ich quetschte mich wieder durch das Gestrüpp und kletterte über den Baumstamm. Dann stand ich vor der ersten Weggabelung und schluckte schwer. Jeder Weg sah aus wie der andere, und jeder Baum glich dem nächsten. Gerade weil es bereits so dunkel war, wurde es komplizierter, den Weg zurückzufinden oder überhaupt etwas zu erkennen. Okay, keine Panik Claire, es gibt immer einen Ausweg. Nach einer gefühlten Ewigkeit lief ich immer noch orientierungslos im Wald umher. Kalter Wind peitschte mir ins Gesicht, und ich irgendwann begann ich umher zu rennen. Ich ignorierte die Äste, die mir beim rennen auf die Haut peitschten. Die Bäume verdichteten sich, und das einzige, was man hören konnte, war mein schneller werdender Atem und das Knacken der Äste unter meinen Füßen. Ich hatte das ständige Gefühl, umherzuschauen und mich zu vergewissern zu müssen, dass niemand hinter mir her war. Der Boden war uneben, und ich war gerade dabei, über die Schulter zu schauen, als ich stolperte und auf dem Boden aufschlug. Ein stechender Schmerz fuhr durch meinen Körper, und ich schnappte nach Luft. Mein Knie pochte wie verrückt. Ich war auf einem Stein aufgeschlagen und blutete. "Verdammt." Meine Stimme war heiser. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, und ich fing an zu schluchzen. Sofort sackte mein Körper in sich zusammen. Das Stechen hinter meinen Augäpfeln wurde intensiver, und ich ließ mit einem mal meinen ganzen Frust heraus. Alle Gefühle, die ich in mir versteckt hatte, kamen hoch, und ich weinte nicht nur wegen meiner aussichtslosen Situation. Ich weinte wegen allem. All den schrecklichen Dingen, die mir passiert waren. Ich zerbrach innerlich und wusste nicht, was ich dagegen tun sollte. Ich wusste einfach nichts. Warum konnte ich das alles nicht hinter mich lassen und einfach weitermachen? Diese Last, eine mir fremden Vergangenheit abnehmen und ganz neu anfangen?  Aber das konnte ich nicht. Es wurde immer dunkler, und ich spürte nur noch Leere in mir. Meine Tränen waren versiegt, und ich hatte das Gefühl, ich könnte nie mehr weinen. Ich starrte auf die Baumkronen. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Wie lange ich auf dem kalten Boden lag und nichts tat, wusste ich nicht. Ich hätte aufstehen können, um weiterzusuchen, aber ich hatte es schon längst aufgegeben. Wie theatralisch, dachte ich und lachte. Ich schaute in den Himmel der so voller Sterne funkelte, als mir plötzlich etwas feuchtes und dickes über das Gesicht fuhr. "Was zur Hölle?" rief ich, sprang auf und verlagerte mein ganzes Gewicht auf meine Beine. Zischend sog ich Luft ein, als der stechende Schmerz durch mein linkes Bein fuhr. Ich lehnte mich an einen nahe liegenden Baum und kniff meine Augen zusammen. Um den Baum herum rannte ein großer weißer Hund, der einem Wolf zum verwechseln ähnlich sah. Er hatte die Zunge rausgestreckt und hechelte laut, während er in meiner Tasche herumschnüffelte, die noch auf dem Boden lag. "Na du, was machst du denn hier so ganz allein im Wald, hm?" Ich setzte mich wieder auf den kalten Boden. Der Hund kam sofort auf mich zu und drückte sich an mich. Ich kraulte ihn hinter dem Ohr, und er legte sich neben mich auf den Boden. Sein Fell war weich, und er trug ein Halsband. "Bist du etwa weggelaufen?" Der Hund legte den Kopf schief und schaute mich an, als würde er sich fragen, ob ich dumm wäre, so etwas überhaupt in betracht zu ziehen. Okay, ich sprach mit einem Hund, der mich nicht verstand, aber er war die beste Gesellschaft, die ich gerade kriegen konnte. Plötzlich stand der Hund auf und streckte sich. Er lief einmal um den Baum und dann weg von mir. "Hey, nicht gehen!" rief ich ihm hinterher, und dann hörte ich jemanden leise lachen. Das konnte nicht der Hund gewesen sein. Oder war es doch der Hund, und ich wurde einfach verrückt. "Redest du öfter mit Hunden in Wäldern, und das um diese Uhrzeit?" Es war die melodisch klingende Stimme eines Jungen. "Das ist eines meiner geheimen Hobbys, die keiner kennt," antwortete ich leise und kniff wieder meine Augen zusammen, um die Person zu erkennen, die jetzt vor mir stand. Der Hund hatte einen viel zu großen Stock im Maul und hüpfte hinter ihm wild umher. "Jetzt mal ehrlich, was machst du hier?" Er klang nun etwas ernster. "Ich hatte vor, hier zu sterben," antwortete ich ebenso ernst. "Na ja, jedenfalls dachte ich, ich sterbe, aber ich glaube, ich habe übertrieben." "Sterben?" fragte er entsetzt und ich hörte einen besorgten unterton in seiner schönen Stimme mitschwingen. "Ich habe mich verlaufen und dann am Bein verletzt," antwortete ich und zuckte mit den Schultern. "Und dann dachtest du, du würdest sterben? Die Straße ist bloß fünf Minuten von hier entfernt." Er zeigte mit der Hand in die Richtung hinter sich. "Das ist wirklich nicht lustig" sagte ich, weil er leise lachte. Dann kniete er sich vor mich hin. "Ich weiß. Komm, ich helfe dir." Er hielt mir die Hand hin, und ich ergriff sie dankbar. Mit einem kräftigen Ruck zog er mich nach oben, und ich stellte mich, anders als bei dem 'Hundeangriff' von vorhin, nur auf mein rechtes Bein, um Schmerzen zu vermeiden. "Du hast Glück, dass Luna nicht hört und in den Wald gerannt ist." Er hielt immer noch meine Hand, und ich ließ sie auch nicht los. "Sie hat wohl die Reste meines Sandwichts in meiner Tasche gerochen", sagte ich und lachte. "Es war nicht mehr viel übrig, jetzt ist sie bestimmt beleidigt." "Sie verzeiht dir bestimmt," sagte er freundlich, "Also, wo musst du hin?" Ich sah mich um. "Ich finde den Weg schon, wenn du mich aus dem Wald geführt hast." Er schüttelte mit dem Kopf. "Du bist verletzt, ich helfe dir." Er ließ meine Hand los und legte seinen Arm um meine Hüfte, damit ich mich an ihm stützen konnte. "Ist schon okay, wirklich." Er ignorierte meinen Einwand und ließ auch nicht los. Schweigend liefen wir durch den Wald, und es war tatsächlich nicht mehr weit. Am liebsten hätte ich mir für meine Dummheit selbst eine verpasst. "Ich kenne mich nicht besonders gut hier aus," sagte ich und brach das Schweigen. "Das ist problematisch", erwiderte er und ich hob fragend eine Braue. "Ich habe selbst keine Ahnung, wo hier was ist. Ich bin erst vor kurzem hergezogen." "Verdammt," sagte ich und lachte. "Ich auch!" Er schmunzelte, als Luna mit dem riesigen Ast gegen eine Bank lief. "Luna kennt den Weg zu mir nach Hause", erklärte er mi. "Wenn ich mit ihr spazieren gehe, verlasse ich mich darauf, das sie mich wieder nach Hause führt." Ich kniff die Augen zusammen. "Ah, da hinten um die Ecke! Es ist nicht mehr Weit, ab da weiß ich weiter!" Er nickte, und wir liefen schweigend weiter. Ich konnte langsam den Weg erkennen, der zum Haus führte. "Da hinter der Hecke wohne ich," sagte ich, und er fing an zu lachen. "Hinter der Hecke also," sagte er, und ich stimmte seinem Lachen ein. "Hinter der Hecke steht das Haus, in dem ich wohne," korrigierte ich mich. Luna bellte laut. Gemeinsam liefen wir noch die letzten Schritte, und dann standen wir vor der Laterne, die ein kleines Licht spendete. Er ließ mich los und stand direkt vor mir. Leider konnte ich nicht mehr erkennen als seine dunklen Haare, die definitiv sehr kurz geschoren waren. Er war größer als ich, was nicht anders zu erwarten war. "Na dann." Er fuhr sich verlegen über das kurze Haar. "Ich gehe lieber schnell, bevor ich noch ärger mit Luna bekomme." Luna war schon zurück auf die Straße gelaufen. Ich nickte, und er wollte gehen, doch da überkam mich ein plötzlicher Impuls, und ich sprang in seine Arme. "Danke," flüsterte ich, und eine Träne lief mir über das Gesicht. "Weißt du, ich dachte wirklich, ich sterbe heute." Er legte den Arm um mich. Mit seiner Hand strich er mir kurz über das Haar. "Ist doch kein Ding." Nach ein paar Sekunden löste er sich von mir. Ich schluckte einmal. Von wegen leer geweint. Dann lächelte er mir ein letztes Mal zu, bevor er und Luna langsam von der Dunkelheit verschluckt wurden. Ich ging humpelnd auf das Haus zu, und nach gefühlten zehn Minuten erreichte ich die Terrasse. Angekommen, öffnete ich auf gut Glück die Terassentür. Ich hatte keine Lust, um das Haus zu laufen und die Eingangstür zu benutzen. Hoffentlich waren Noah und seine Freunde nicht da, schoss es mir durch den Kopf, und ich ging so leise ich konnte. Wenn sie da waren, sollten sie mich nicht bemerken. Die waren eh immer so vertieft in ihre Videospiele. Die Tür öffnete sich, und ich betrat das Haus. Ich war noch nie so glücklich gewesen, hier zu sein. Ich schloss die Tür hinter mir, und dann wurde das Licht eingeschaltet. Aber nicht von mir. "Wo zum Teufel bist du gewesen?" Noah stand vor mir, und sein Gesicht war eine Mischung aus Erleichterung und Wut. "Ich war nur spazieren", stammelte ich und fühlte mich plötzlich wie ein Kind, das beim Stehlen erwischt worden war. "Spazieren?" Noahs Stimme klang vor entsetzten ganz tief. "Spazieren? Um diese Uhrzeit? Bist du verrückt geworden?" Er machte einen Schritt auf mich zu, seine Augen funkelten vor Ärger.

Lost in a Perfect NightmareWo Geschichten leben. Entdecke jetzt