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Die gesamte nächste Woche ließ sich Noah kein einziges Mal in der WG blicken, während Leyna, Eric, Josh und ich die Tage am Pool lagen und die pralle Sonne genossen. Auch an diesem Morgen war ich wieder gut gelaunt in meinem Bikini die Treppe heruntergelaufen, um mir ein Sandwich zum Frühstück zu machen, bevor es wieder an den Pool ging.  Doch als ich in die Küche einbog stockte ich inmitten meiner Bewegung, denn ich entdeckte Leyna, die neben einer mir noch unbekannten Frau in der Küche saß und schlecht gelaunt an ihrem Kaffeebecher nippte. Die Frau hatte ein schwarzes Businesskleid an, das viel zu teuer aussah, um es in einer Küche wie dieser zu tragen und auch die funkelnden Stecker in ihren Ohren, die mit den rot geschminkten Lippen um die Wette strahlten, passten nicht so recht zum Ambiente von Chaos und ungewaschenem Geschirr. Ihre schwarzen Haare waren zu einem strengen Zopf zurückgebunden und die stechend braunen Augen durchbohrten mich förmlich, als ich näher kam. Mich, in meinem Bikini. Ich wollte im Erdboden versinken. „Du bist also der Neuzugang", bemerkte die Frau trocken und musterte mich unverhohlen. „Ja, der Neuzugang namens Claire." Die Frau regte sich nicht und nippte unbeeindruckt an ihrem Kaffee. „Dessen bin ich mir durchaus bewusst." Selbst die Art und Weise, wie sie ihren Kaffee trank, sah perfekt aus. Ich setzte mich unbehaglich an den Tisch und überlegte, was ich sagen sollte, da begann die Stille unangenehm zu werden. „Also Claire", sagte Lena laut und räusperte sich. "Das ist Petra." Sie sah von Petra zu mir, dann wieder zurück zu Petra. „Unsere Betreuerin, von der ich dir schon so viel Gutes erzählt habe." Ich nickte mit zusammengepressten Lippen und überlegte, die Küche ohne Sandwich zu verlassen, und wollte mich gerade erheben, da hielt mich Petra in meinem Vorhaben zurück, als hätte sie meinen Fluchtversuch geahnt. „Moment", sagte sie in einem Tonfall, der keine Widerrede duldete, und ich erstarrte. „Leyna, holst du mal bitte den Rest herunter? Ich würde gerne mit euch allen über etwas sprechen." Sofort sprang Leyna auf und machte sich mit einem entschuldigenden, aber auch erleichterten Lächeln aus dem Staub. Verräterin. „Kaffee?" fragte Petra und deutete vor sich auf vier weitere Becher. „Die Bestellungen der anderen kenne ich, deine jedoch nicht. Also habe ich für dich den gleichen wie für Leyna genommen. Ich hoffe, du magst Mandelmilch?" Ungewollt verzog ich das Gesicht. „Ich nehme einfach Noahs. Der ist eh nicht da." Petra griff  nach dem Becher, auf dem Noah stand, und schob ihn mir gleichgültig zu. Wenn er seinen Kaffee trank, wie seinen Kakao, würde ich nicht enttäuscht sein. „Es ist schön, dich endlich kennenzulernen, Claire. Ich weiß, es kommt etwas verspätet, aber ich hatte viel zu tun." Ich winkte ab und versuchte mich an Noahs Getränk. „Von Josh habe ich gehört, dass du dich gut eingelebt hast." Der Kaffee war wie erwartet süß und lecker. Ich nahm einen weiteren Schluck und wartete, weil sie nichts sagte. Unbehaglich rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. "Kommen sie jetzt öfter vorbei?" fragte ich dann, weil mir nichts besseres einfiel. Es war mir egal ob sie da war, oder ob sie wieder ging, obwohl es mir bei weitem besser in der Küche gefiel, wenn sie nicht da war. Als sie dann antwortete, verschluckte ich mich beinahe an meinem Kaffee. „Seid ihr denn kleine Kinder, die man trösten muss, falls sie mal hinfallen oder schlecht träumen?" Verdattert blinzelte ich. „Aber Sie bekommen doch Geld dafür, oder? " Abschätzig sah sie mich an, so als hätte ich etwas falsches gesagt. „Natürlich bekomme ich Geld dafür", antwortete sie und ich überlegte, einfach zu fragen wonach es mir stand, immerhin nahm auch diese Frau kein Blatt vor den Mund. „Und von wem bekommen Sie das Geld für mich?" Interessiert beobachtete ich ihre Reaktion, doch sie zuckte nicht mit der Wimper. „Gut eingelenkt, Claire, aber trotzdem, über diese Art von vertraulichen Informationen kann ich mit dir nicht sprechen." Ich schnaubte ungläubig. „Das Geld für die anderen bekommen Sie doch von den Eltern, nehme ich an? Und meine sind tot. Das wundert mich bloß." Sie waren zwar nicht wirklich tot, aber für mich waren sie gestorben. Reflexartig griff ich nach der silbernen Kette, mit dem Herzanhänger, die ich in meinem Zimmer gefunden und umgelegt hatte. Als das Amulett endlich an meinem Hals herunterhing, fühlte es sich an, als wäre es nie weg gewesen. Als wäre die Halskette nur für mich geschaffen worden. „Wo ist Josh?" Petra sah an mir vorbei und ich ließ die Hand wieder sinken. Leyna, Noah und Eric standen in der Küche. Was zur Hölle machte Noah hier? Leyna sah mich schockiert an, und als ich ihren Blick fragend erwiderte, sah sie zu Boden. Ich biss mir auf die Unterlippe. Noah und Eric taten so, als hätten sie nichts gehört und alle drei setzten sich an den Tisch. „Ich bekomme ihn nicht wach", Leyna zuckte entschuldigend mit den Schultern. Sie war eine schreckliche Lügnerin. „Gut. Ich rede nicht um den heißen Brei herum. Ich weiß, dass ihr Ferien habt und dass ich euch versprochen habe, dass die Besuche von Alaric in den Ferien nicht stattfinden, aber ihr habt mir im Gegenzug versprochen, nicht gegen die Regeln zu verstoßen. Wenn ihr glaubt, dass ich nichts von eurer Party mitbekommen habe, dann haltet ihr mich für dümmer, als erwartet." „Was für eine Party?" fragte Eric, während ich gleichzeitig „Was für Besuche?" fragte. Sie ignorierte uns beide und sah auch gar nicht mehr in unsere Richtung, als sie fortfuhr. „Alaric wird also in den nächsten vier Tagen vorbeikommen und ihr werdet alle anwesend sein, habt ihr das verstanden?" Leyna schnappte protestierend nach Luft. „Aber es sind Ferien!" Petra klang vollkommen empathielos als sie erwiderte: „Ich kann euer Verhalten in den letzten Wochen nicht rückgängig machen. Und ihr könnt das auch nicht". „Ist das dann alles?" sagte Noah unbeeindruckt. Er hatte noch kein einziges Mal in meine Richtung gesehen. „Natürlich wollte ich mich auch nach eurem Befinden erkundigen." „Gut, das wäre dann also geklärt." Er stand auf und seine Augen verirrten sich für den Bruchteil einer Sekunde zu mir. Und dann sah er auf meine Hand. „Steht da auf dem Becher mein Name?" Ich ließ das Haar in mein Gesicht fallen und wollte mich schleunigst aus dem Staub machen, da hielt Petra mich erneut davon ab, indem sie: „Du nicht." sagte. Ich erstarrte auf meinem Platz und sah hilfesuchend, und Noahs Blick meidend, zu Leyna. „Ich gehe dann mal besser auch." Sie schob ihren Stuhl laut knarrend über den Boden. Verräterin! Mitleidig sah Leyna zu mir zurück, bevor sie dann gemeinsam mit den Jungs die Küche verließ. Kurze Zeit herrschte wieder bedrückendes Schweigen, doch als ich erneut damit anfing, nervös auf meinem Stuhl herumzurutschen, begann Petra endlich zu sprechen. „Die Zahlungsquelle-", sagte sie und faltete die Hände ineinander. „Es ist ein Internat, nicht weit von hier. St. Maria heißt es. Das sagt dir doch etwas, nehme ich an." Ich zögerte und nickte. „Die Umstände deines Umzugs in diese Wohngemeinschaft sind mir bewusst, Claire." Ich runzelte die Stirn. „Ja, das weiß ich." McCann hatte es mir erzählt. Das diese Frau alles über meine Umstände wissen musste, war immerhin unausweichlich gewesen. „Du bist doch kein dummes Mädchen, Claire, oder?" Ich schluckte schwer. „Nein, natürlich nicht." „Dir ist also bewusst, dass deine Schonfrist abgelaufen ist?" „Meine Schonfrist ..." Ich dachte kurz darüber nach. „Sie meinen den Psychologen, Alaric? Aber ich dachte in den Ferien ..." Petra hob eine Augenbraue und ich sank in meinem Stuhl zusammen. Ich hatte keine Ferien. Ich hatte eine Schonfrist und die war abgelaufen. „Gut." Sie erhob sich. „Mein Kaffee ist kalt geworden und die Unterhaltung neigt sich dem Ende zu." Ich sah auf und bemerkte, wie komisch es sich anfühlte, Petra vor mir stehen zu haben. „Ich verstehe einfach nicht, wie das alles sein kann", sagte ich dann, obwohl es nicht sie war, für den diese Worte gedacht waren. "Dass ich jetzt hier bin, obwohl ich doch überhaupt nichts weiß." Petra sah ungeduldig zu mir herab. „Du bist doch kein dummes Mädchen, Claire." Sie wiederholte ihre vorherigen Worte und wandte sich langsam von mir ab. „Alles, was du wissen musst, das weißt du bereits." Dann schaute sie noch einmal über die Schulter zurück , bevor sie gänzlich die Küche verließ. „Oder etwa nicht?" 

Der restliche Teil des Tages ließ sich kaum jemand blicken. Nur Noah sah ich auf dem Weg zum Pool noch einmal an mir vorbeilaufen. Als ich ihn aufhalten wollte, um zu erklären, was es mit dem Kaffeebecher auf sich hatte, nickte er mir bloß zu, ignorierte meinen Gesprächsanstoß und verschwand aus der Tür heraus. Leyna und Eric hatten sich in ihren Zimmern verkrochen und auch Josh hatte keine Lust mehr, mit mir im Garten zu sitzen, also verkroch auch ich mich in meinem Zimmer, tauschte den Bikini gegen einen bequemen Pyjama und tat das, was ich seit meiner Ankunft in der WG immer wieder aufgeschoben hatte. Ich ging die Sachen in meinem Zimmer durch. Jedes Buch, das ich öffnete, von dem ich nicht wusste, dass ich es gelesen hatte. Jedes Kleidungsstück, das mir so fremd war, dass ich nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, ob es mir wirklich gefiel. Jede noch so winzige Kleinigkeit. Der kleine Kaktus auf dem Fensterbrett oder der braune Traumfänger, der über dem Bettgestell hing. Nichts erweckte auf irgendeine Art eine Erinnerung aus meiner Vergangenheit. Woher sollte ich wissen, welche Sachen vielleicht schon vorher in dem Zimmer standen und welche meine waren? Nichts weckte in mir eine Erinnerung, außer das Kleid, das ich an meinem ersten Tag aus Frust in den Müll geworfen hatte. Ich warf mich auf mein Bett und vergrub den Kopf in das Kissen. Mein Name ist Claire Anderson, ich bin 17 Jahre alt und ich mag Pizza. Alles andere spielte keine Rolle und daran musste ich festhalten. „Nicht viel denken und leben", hatte McCann gesagt. „Einfach leben." Wenn das mal so einfach wäre. Als es langsam dunkel wurde und mein Magen begann, protestierend zu knurren, verließ ich meine Höhle und tappte mies gelaunt die Treppe herunter. Die anderen saßen im Wohnzimmer und aßen, nicht anders zu erwarten, Pizza. „Warum hat mir niemand Bescheid gesagt? Ich verhungere und ihr esst Pizza." Ich warf mich mürrisch auf einen der Sitzsäcke und griff in den Pizzakarton. „Ich habe nach dir gesehen, aber du hast geschlafen." Leyna sprach wieder mit vollem Mund. Und tatsächlich war ich erst vor einigen Minuten wach geworden und dann gleich heruntergekommen. „Euch sei vergeben." Ich nahm einen Bissen und fragte: „Wo ist Noah?" Eric sah gelangweilt auf den Bildschirm des Fernsehers, auf dem Pretty Woman lief, und wollte gerade in seine Pizza beißen, da schlug Leyna ihm ganz plötzlich und mit voller Wucht ein Kissen ins Gesicht. „Bist du verrückt geworden?!" rief er wütend und Josh fing lauthals an zu lachen. Ich riss ungläubig die Augen auf und wollte gerade etwas zu dem Käse sagen, der Eric in den Haaren hing, als ich das Klingeln hörte. „Leute!" rief ich, weil keiner reagierte und ich wusste, dass es sich nicht um mein Handy handeln konnte. Ich hatte nämlich überhaupt keins. „Meins!" rief Leyna, die vollkommen aus der Puste vom Lachen war, und sprang auf. „Muss wohl jemand ganz Besonderes sein." Die Art und Weise, wie Eric ihr hinterhersah und wie missmutig er klang, ließ mich die Stirn runzeln. Außerdem hatte er immer noch Käse in den Haaren. „Hallo?" hörte ich Leyna sagen. Stille. „Ja..., ja, ich bin zuhause und nein, ich komme ganz bestimmt nicht." Stille. „Er kommt schon ohne uns klar...., Nein? Dann gib ihn mir." Mit hilfesuchendem Blick hielt Stellte Lena auf Stumm. „Das ist Jake. Er sagt, wir sollen auf seine Party kommen." Dann schaltete sie den Lautsprecher ein. Leyna: „Hallo? Jake, bist du noch da?" „Jaaaa!!" Er schrie in sein Mikro und Leyna hielt das Handy etwas weiter weg. „Hier ist Jake und hier ist auch dein Freund." „Was für ein Freund?" Eric. Leyna winkte beruhigend ab. Zuerst waren es nur laute und raschelnde Geräusche, dann Noahs Stimme. Er nuschelte unverständliche Wörter. Ich warf Josh einen Blick zu und er erwiderte ihn grimmig. „Nein, nein!" Das gelallt eher wie ein „Njen njeeeen" klang und dann wurde die Verbindung unterbrochen. „Was hatte das jetzt zu bedeuten?" Ich war verwirrt und musterte die anderen. Einen nach dem anderen. „Das", sagte Eric, „bedeutet, dass wir auf eine Party gehen." „Und wie es das bedeutet", fügte Leyna hinzu und irgendwas an ihrem Grinsen jagte mir Angst ein. „Was soll dieser komische Blick, Leyna? Du machst mir Angst." „Was für ein komischer Blick?" erwiderte sie unschuldig. "Immerhin haben wir unsere Privilegien dank Noah nun sowieso schon verloren. Was schadet da eine weitere Party auf der Liste?"

Lost in a Perfect NightmareWo Geschichten leben. Entdecke jetzt