3. Eiszeit (2)

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Pietro und ich wechseln erneut einen Blick, wobei ich die Augen verdrehe. Pietro kichert, als er mich sieht. Ich bin jedoch genervt. Was will meine Mutter jetzt schon wieder? Bestimmt ist in ihrem Zimmer eine Spinne und ich soll sie entfernen. Genau wie meine Schwester hat sie höllische Angst vor Spinnen und beinahe immer wenn Mum oder Kate so hysterisch kreischen, hat sich eines der armen Tiere in ihr Zimmer verirrt.

„Ja Mum, ich komme!", rufe ich. Hastig poltere ich die Treppe hinunter. Wenn meine Mutter Hilfe braucht, ist sie meist unausstehlich. Und wehe, sie wartet auch nur ein paar Minuten, bis ich bei ihr bin. Es muss jetzt sofort sein, nicht gleich.

Mum steht in ihrem Zimmer. Sie steckt in einem roten, knöchellangen Abendkleid, das ihre Figur etwas zu deutlich betont. Besonders an den Rundungen ihres Körpers spannt es. Oh je, wo will sie denn damit hin? Das Ding sieht absolut grässlich an ihr aus!

„Ich krieg den Reißverschluss nicht zu", jammert sie und deutet auf ihren Rücken.

„Ich mache das", seufze ich, obwohl ich bezweifle, dass der Reißverschluss zugehen wird. Schließlich gelingt es mir jedoch, das Kleid mit einem lauten Ratsch zu schließen. „Jetzt bloß nicht atmen", weise ich Mum an, „sonst platzt es!"

„Hatte ich nicht vor", keucht sie.

„Wohin willst du eigentlich in diesem Fummel?", frage ich. Meine Mutter macht sich so gut wie nie hübsch. Früher als wir noch in Großbritannien lebten und sie mit Andrew, ihrem Exfreund, zusammen war, hat sie sich nicht mal geschminkt, wenn sie abends ausgegangen sind. An ihren freien Tagen und nach der Arbeit läuft sie normalerweise in Jogginghosen und weiten T-Shirts herum. Warum nun also das Kleid?

„Ich gehe in die Oper", erklärt sie und kramt hektisch in einer zum Kleid passenden knallroten Lackhandtasche. Oh Gott! Und ich dachte schon, es ginge nicht noch schlimmer. Aber da habe ich mich getäuscht. Zum Glück muss ich mit ihr so nicht vor die Haustür treten.

„Mit wem gehst du in die Oper?" Jetzt ist meine Neugier geweckt. In die Oper zu gehen passt nämlich ebenso wenig zu meiner Mutter wie dieses Kleid. Einmal haben wir uns die Arie der Nachtkönigin aus der Zauberflöte angehört und Mum meinte dazu nur, ob nicht mal jemand das Gekreische ausmachen könnte. Daraufhin hat Kate heftig protestiert und auf eine gesangliche Meisterleistung hingewiesen.

„Mit deinen Großeltern", meint sie pampig, „aber das geht dich eigentlich nichts an." Okay, ich hab es verstanden. Ich frage nicht mehr nach.

„Und wer kümmert sich ums Restaurant, wenn du mit Nonna und Grandpa weggehst?" Ups. Doch eine Frage. Sorry, Mum.

„Der neue Chefkoch, Antonio." Klar, der neue Chefkoch. Die genialste Errungenschaft meiner Großeltern. Antonio ist Anfang dreißig, gutaussehend und charmant. Der Mann kann kochen wie ein Gott. Ein Bissen von seinem Essen und ihr seid verliebt. Mum kann ihn nicht leiden, weil sie selbst gerne Chefköchin geworden wäre. So wurde sie nun aber ins Büro verfrachtet und kümmert sich um die Verwaltung. Angesichts der Tatsache, dass sie das Restaurant bald von meinen Großeltern übernehmen wird, macht das vielleicht auch Sinn. Es stört sie trotzdem ungemein. Gleichzeitig kann ich sie verstehen, wenn sie darüber schimpft, dass viele Männer einfach das kriegen, was sie wollen, während es für Frauen oft harte Arbeit bedeutet.

„Kannst du mal im obersten Schrankfach schauen, da ist eine Kiste mit meinen Schals", sagt Mum, während sie ihre armen Füße in Highheels zwängt. Langsam watschelt sie ins Bad, um sich dort zu schminken. Am liebsten hätte ich die Hände vor meinem Gesicht zusammengeschlagen. Wenn sie gleich wieder kommt, wird sie bestimmt aussehen wie ein Clown. Eigentlich will ich nicht länger Zeugin dieser Peinlichkeit sein, aber das Schicksal zwingt mich dazu. Vielleicht lässt Mum mich ja in Ruhe, wenn sie endlich ihre Schals hat.

Ich atme tief ein, als ich mich dem offenen Kleiderschrank zuwende, in dem ein nahezu perfektes Chaos herrscht. Scheinbar hat Mum bereits ein paar Outfits ausprobiert, bevor sie sich schließlich für das Kleid entschieden hat. Auf dem Boden liegen Blusen, Röcke und noch mehr Kleider. Wow. Ich wusste gar nicht, dass sie eine richtige Abendgarderobe besitzt. Im obersten Fach des Schrankes stehen zwei Kisten. Welche ist jetzt noch mal die mit den Schals?

Ächzend stelle ich mich auf Zehenspitzen und strecke die Arme über dem Kopf aus. Warum muss ausgerechnet ich diese Schals holen? Ich bin die Kleinste in meiner Familie. Ich muss sogar springen, um die Kisten zu berühren. Ich balle die Hand zur Faust und versuche somit, eine der Kisten zu Boden zu befördern. Leider habe ich zu heftig dagegengeschlagen, so dass nun beide Kisten wackeln und auf der Kippe stehen. In ängstlicher Erwartung halte ich die Luft an und blicke angsterfüllt nach oben. Oh nein! Bitte nicht.

Kaum einen Herzschlag später fallen die Kisten nach vorn herunter, genau auf mich zu. Ruckartig schütze ich meinen Kopf mit den Armen. Weiche Wollschals landen auf mir und außerdem etwas Kantiges, Hartes.

Fluchend befreie ich mich aus den Stofffetzen und begutachte das vollendete Chaos. Überall liegen bunte Schals herum, aber das ist nicht alles. Hier und da erblicke ich außerdem alte Videokassetten und Fotoalben. Das befindet sich also in der zweiten Kiste. Seltsam nur, dass ich all das noch nie zuvor gesehen habe. Mum hasst Fotos. Wann immer wir einen Ausflug machen, was nicht allzu oft vorkommt, und Kate mit der Kamera wie wild zu knipsen beginnt, dreht sich Mum weg. Wenn Kate und ich sie darauf ansprechen, weshalb es kaum Kinderfotos von uns gibt, meint Mum lediglich, Fotos seien sentimentaler Quatsch für Menschen, die in der Vergangenheit leben und dadurch die Gegenwart vergessen.

Vorsichtig greife ich nach einem der Fotoalben. Sie sind alle beschriftet. Andrew & Fiona, 2005 steht auf dem ersten Album, das in meine Hände gerät. Ich blättere durch die Seiten. Tatsächlich hat Mum irgendwann einmal alte Bilder entwickeln lassen und sie eingeklebt. So ein sentimentaler Quatsch sind Fotos also scheinbar doch nicht. Staunend betrachte ich die Abzüge, die uns als Familie im Zoo zeigen oder Mum und Andrew am Strand von Brighton.

Schließlich klappe ich das Album zu. Irgendwie komme ich mir vor, als würde ich in etwas Privates und Geheimes eindringen. Fast, als wäre meine Mutter eine Fremde und wir nur flüchtige Bekannte.

Zusammen mit den Videokassetten verstaue ich die Alben wieder in der Kiste. Dabei gerät mir eins in die Hände, das besonders auffällig ist. Es ist weiß und mit jeder Menge roten und pinken Glitzerherzchen verziert. Ernesto & Fiona, 1993. Erschrocken starre ich auf die verschnörkelte Schrift. Eigentlich will ich das Album sofort wieder in die Kiste packen und vergessen, dass ich es gesehen habe, doch gleichzeitig macht es mich unglaublich neugierig. Ein kribbelnder Schauer durchzuckt meinen Körper. Das sollte ich nicht sehen, ich weiß. Aber die Neugier überwiegt bei mir letztendlich fast immer.

Schnell schlage ich das Album auf. Schon das erste Foto bestätigt meine Annahme. Es handelt sich um ein Hochzeitsalbum. Wie gebannt starre ich auf Mum, die in einem langen, weißen Kleid steckt. Die Haare türmen sich zu einer kunstvollen Frisur auf. Das hätte ich nicht erwartet. Mum war mal richtig hübsch. Doch noch mehr als meine Mutter verlangt der Mann neben ihr meine Aufmerksamkeit. Der Mann, von dem wir seit beinahe dreizehn Jahren kein einziges Lebenszeichen erhalten haben. Die beiden blicken auf dem Foto nicht in die Kamera, sondern sehen einander an. In ihren Augen liegt jenes magische und überwältigende Leuchten von glücklich verliebten Menschen. Auch wenn ihre Ehe schon längst geschieden ist, so sind ihr Glück und ihre Liebe auf diesem Bild für die Ewigkeit festgehalten und auch jetzt, über zwanzig Jahre später, ist noch ein Hauch davon spürbar.

Mehr als die Vertrautheit meiner Eltern wundert es mich jedoch, wie ähnlich ich meinem Vater sehe. Mit Mum und Kate habe ich äußerlich wenig Gemeinsamkeiten, aber ihm, diesem Ernesto bin ich wie aus dem Gesicht geschnitten. Wir haben dieselben hohen Wangenknochen und dieselben schwarzen Locken. Genau wie ich ist mein Vater klein und schmal. Die genetische Abstammung lässt sich auf keinen Fall verleugnen.

Plötzlich höre ich die Stimme meiner Mutter, die fragt: „Brionny, ist alles in Ordnung? Hast du die Kiste?"

Schnell räume ich die restlichen Fotoalben zusammen. Ein Tritt genügt, um die Box, in der sie sind, unters Bett zu befördern. Mum soll nicht wissen, was ich soeben entdeckt habe.

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