Gemeinsam begeben wir uns in den Hörsaal, in dem die Vorlesung von Toscani stattfinden wird. Viele der Plätze sind bereits belegt. Lucca und ich setzen uns auf zwei freie Stühle in der vorletzten Reihe. Es ist fast ein bisschen wie in der Loge im Kino. Von hier aus haben wir einen guten Blick auf das Rednerpult, ohne direkt erkannt zu werden. In der Reihe vor uns sitzt der junge Student mit Glatze und rötlichem Bart, der mir bereits im Foyer aufgefallen ist. Fast schon auffällig dreht er sich zu mir um und lächelt mir zu. Unsicher erwidere ich sein Lächeln und schaue dann zu Lucca hinüber, aber dem scheint der Fremde gar nicht aufzufallen.
Ich bin ziemlich nervös und fühle mich fast wie kurz vor den Abschlussprüfungen. Um mich zu beruhigen, atme ich ein paar Mal tief durch, doch so richtig locker werden kann ich dadurch nicht. Wie es für eine universitäre Veranstaltung typisch ist, beginnt die Vorlesung mit einer Viertelstunde Verspätung. Ein Angestellter der Uni Mailand stellt Toscani vor und lobt ihn für seine Veröffentlichungen.
Nach der Ansprache klopfen alle Anwesenden auf die Klapptische vor ihnen und Toscani tritt an das Rednerpult. Von hier oben wirkt er beinahe klein und unscheinbar. Er trägt einen schlichten, grauen Anzug mit ebenfalls grauer Krawatte und sein volles Haar ist ebenfalls komplett ergraut. Auf der Nase trägt er eine Brille mit dickem, schwarzem Rand. Seine Haltung ist etwas gebeugt und selbst auf die Distanz sieht er unglaublich traurig aus. Manche Menschen müssen nicht viel sagen, man sieht ihnen sofort an, wie es ihnen geht. So ähnlich ist es auch bei Toscani.
Mit seinen durch die Brille groß erscheinenden, schwarzen Augen blickt Toscani in die Runde. „Guten Abend meine Damen und Herren", sagt er. Seine tiefe Stimme brummt in das Mikrophon. Erschrocken zucke ich zusammen. Auch wenn sein äußeres Erscheinungsbild mir nicht bekannt vorkommt, so weckt seine Stimme in mir dennoch Erinnerungen. Sie ist eine richtige Märchenerzählerstimme. In mir keimt ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme auf. Auf einmal komme ich mir vor wie ein kleines Kind, das in seine Decke gekuschelt im Bett liegt und lieb gehalten wird. „Es ist alles gut Brionna... beruhig dich! Mach die Augen zu und versuch zu schlafen..." hallt diese Stimme in meinem Kopf wider. Dabei erzählt Toscani schon längst etwas zur Science Night, die in diesem Jahr zum dritten Mal in Folge stattfindet und er betont, wie gut er dieses Projekt findet. Außerdem bedankt er sich bei den Verantwortlichen für die Einladung, an der Science Night teilzunehmen.
Ich schlucke. Wie kann einem jemand bekannt und fremd zugleich vorkommen? Vollkommen gebannt höre ich Toscani zu, ohne jedoch zu verstehen, wovon er spricht. Alles, was mich interessiert, ist die Sprachmelodie seiner Stimme. Sie beruhigt mich. Ich habe erwartet, noch nervöser zu werden, wenn ich ihn sehe, stattdessen fühle ich mich auf einmal sicher und geborgen. Gleichzeitig komme ich mir aber vor wie ein Kind, wie jemand, der ich schon längst nicht mehr bin.
Ich schiebe diese Gedanken beiseite und versuche mich, auf den Inhalt seiner Vorlesung zu konzentrieren. Toscani hat seinen Vortrag sehr allgemein gehalten. Scheinbar, damit alle Menschen, die an der Science-Night teilnehmen, verstehen, wovon er spricht. Zunächst erklärt er den Aufbau der DNA und wie diese bei der Zellteilung vervielfältigt wird. Ein bisschen fühle ich mich wie bei einer richtigen Vorlesung in der Universität.
Gegen Ende seines Vortrages kommt er auf seine aktuellen Forschungsthemen zu sprechen und weist darauf hin, dass zwei Mitarbeiterinnen, die gerade in seiner Arbeitsgruppe promovieren, im Foyer Poster dazu ausgestellt haben. Nachdem Toscani seinen Vortrag beendet hat, werden Fragen gestellt. Allerdings scheint es mir, als würden die Fragesteller lieber sich selbst reden hören, als wirklich eine Antwort von Toscani zu erwarten, denn teilweise kommt es zu minutenlangen, fachbegrifflastigen Ausschweifungen, bevor die eigentliche Frage gestellt wird. Toscani reagiert stets gelassen und ruhig.
Aus Zeitgründen können nur fünf Fragen gestellt werden, bevor das Kolloquium abgebrochen wird. Der Angestellte der Uni Mailand, der Toscani bereits vorstellte, tritt zum Rednerpult und bedankt sich bei ihm. Wieder klopfen alle Anwesenden auf die Tische und dann leert sich der Hörsaal auch schon. Einige bleiben sitzen, um auf den nächsten Redner zu warten, während der Großteil, inklusive Toscani, nach draußen stürmt.
„Wir gehen auch", zischt Lucca mir zu. Gemeinsam mischen wir uns unter die Leute, die sich auf die Tür des Hörsaals zuschieben. Toscani ist irgendwo in der Menge untergegangen, weshalb wir ihn aus den Augen verlieren. Allerdings ist es kein Problem, ihm im Foyer der Uni wieder zu finden. Trotz der Stellwände mit den Postern, die überall errichtet wurden, verläuft sich die Menge hier. Wir brauchen nicht lange, bis wir die Poster von Toscanis Doktorandinnen gefunden haben. Es handelt sich um zwei hübsche, junge Frauen, höchstens Mitte dreißig. Sie sind schick zurecht gemacht und mit ihren hohen Schuhen beide größer als Toscani, der in ihrer Mitte steht. Während interessierte Studierende und Professorinnen, sowie Professoren auf ihn zudrängen und ihm die Hand schütteln, wirkt er fast schon desinteressiert. Er schaut kaum jemandem in die Augen und vermeidet es, mehr als ein paar Sätze mit jedem zu reden. Einige Männer und Frauen versuchen, Toscani in ein Gespräch zu verwickeln, aber niemandem gelingt das so wirklich, weshalb die meisten nach kurzer Zeit aufgeben.
Lucca und ich bleiben zunächst abseits stehen und beobachten Toscani. Erst als sich das Interesse für seine Poster und Forschung langsam legt, wagen wir es, einen Schritt in seine Richtung zu machen. Ich atme einmal tief ein und nehme all meinen Mut zusammen.
„Guten Abend", sage ich direkt zu Toscani. Aus der Nähe ist seine Ähnlichkeit mit mir unverkennbar. Genau wie ich hat er dunkle Augen und hohe Wangenknochen. Seine Brille sitzt auf exakt dem kleinen Stupsnäschen, das auch mein Gesicht ziert. Seine Lippen sind ebenfalls schmal und so wie ich hat er eine hohe Stirn, auch wenn sich bei ihm dort bereits Falten gebildet haben. Er erinnert mich an den Mann in den Fotoalben meiner Mutter und gleichzeitig wirkt er doch so anders.
„Guten Abend", sagt Toscani und sieht mich mit seinen tieftraurigen Augen an. Mein Magen verkrampft sich und eine eiskalte Faust legt sich um mein Herz. Weiß er überhaupt, wer ich bin? Ist er der, für den ich ihn halte?
„Ich...äh...", beginne ich und weiß nicht, was ich sagen soll. Mein Kopf ist wie leer geblasen.
„Möchten Sie ein Forschungspraktikum bei uns machen?", springt eine der Doktorandinnen ein und lächelt mich gewinnend an. Scheinbar wittert sie in mir eine Studentin, die an Humanbiologie interessiert ist. Ich bin fast schon ein bisschen wütend, weil sie sich einmischt. Toscani beachtet mich währenddessen kaum, sondern scheint regelrecht durch mich hindurch zu sehen. Die kalte Faust um mein Herz packt für einen Moment noch fester zu.
„Eigentlich komme ich mit einer Nachricht von Maria Vecca", sage ich mit fester Stimme.
Als ich Maria Vecca erwähne, zuckt Toscani erschrocken zusammen. Zum ersten Mal an diesem Abend wirkt er nicht traurig und desinteressiert, sondern zu höchst alarmiert. Er richtet sich aus seiner eingefallenen Haltung auf und schenkt uns mehr Beachtung. Auf einmal scheint es, als würde er uns mit anderen Augen betrachten und uns tatsächlich wahrnehmen. Zuerst nimmt er Lucca ins Visier, dann mich. „Wer soll das sein?", blafft er.
„Ich denke, Sie wissen, wer das ist", entgegne ich, „ich bin Mitglied im Geheimbund der Elemente und Maria schickt mich zu Ihnen." Toscani atmet tief und schnell ein und aus. Ich kann sehen, wie sein Brustkorb sich hektisch hebt und senkt. Von einer Sekunde zur anderen steigt sein Puls an, während ich auf einmal erstaunlich ruhig bin. Es ist, als hätte ich alle Bedenken hinter mir gelassen und auf ihn übertragen. Während man Toscani die Angst regelrecht vom Gesicht ablesen kann, fühle ich mich stark und handlungsfähig.
„Ich... ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen", stammelt er und taumelt zurück. Sein Gesicht ist verzerrt. Er wirkt gehetzt und getrieben, was mich in der Annahme bestätigt, dass wir hier richtig sind. Irgendetwas hat er mit Maria Vecca und den vier Elementen zu tun. Aber warum macht ihm das so viel Angst?
Ich trete noch einen Schritt auf Toscani zu. „Bitte entschuldigen Sie mich, ich werde nun die Toilette aufsuchen", sagt er hastig und wirbelt auf dem Absatz herum. Ehe ich mich versehe, stürmt er davon.
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Die Elemente
FantasiKate und ich wechseln einen erstaunten Blick. Das ist es also, Marias Geheimnis. Der Grund, aus dem sie uns ihr Tagebuch vermacht hat. "Unglaublich", flüstert meine Schwester. Sie scheint genauso erschüttert zu sein wie ich. Endlich haben wir die fe...