54. Auf der Flucht (1)

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Es ist wie ein Traum, der mich an weit entfernte Orte bringt. Ich sehe das Meer, das sich grau und dunkel vor mir erstreckt. Ich kann Salz auf meinen Lippen schmecken. Das Rauschen der Wellen reicht bis an meine Ohren und mischt sich mit dem Tosen des Windes. Über dem Meer bauschen sich dunkelgraue Sturmwolken auf. Am liebsten würde ich auf sie zulaufen. Steine knirschen unter meinen Schuhen, während ich einen Schritt auf die Brandung zugehe.

Plötzlich ertönt ein unangenehmes Knacken. Ich bin auf etwas getreten. Doch  was es ist, kann ich nicht erkennen. Langsam sehe ich an mir herunter. Mir fällt auf, dass ich die Uniform meiner alten Schule trage. Als wäre ich in der Zeit zurück gereist. Ich drehe mich einmal um mich selbst und kann rechts von mir ragen die verkohlten Reste des Westpiers aus den Wellen. Links liegt der Brighton Pier. Obwohl es noch nicht dunkel ist, leuchten bereits Schriftzüge und Lichterketten. Sie blinken in einem wilden Durcheinander. Fast als wollten sie mich vor etwas warnen.

Wo bin ich? Bin ich wieder zu Hause in Brighton? Und wie um alles in der Welt bin ich hierhin gekommen?

„Brionny, du kannst uns doch nicht verlassen!", höre ich eine tiefe Stimme sagen. Sie klingt besorgt und aufgebracht, aber ich bin ganz ruhig. So als hätte ich meinen inneren Schwerpunkt gefunden. Hier möchte ich bleiben, für immer.

„Warum nicht?", frage ich. Darauf erhalte ich keine Antwort. Vielleicht ist das aber auch überhaupt nicht wichtig. Ich allein entscheide, wohin es von hier aus weitergeht. Wie von selbst setze ich mich in Bewegung und laufe auf die Ruinen des Westpiers zu. Ich spüre, dass meine Arme immer schwerer werden. Meine Beine scheinen dicke Betonklötze zu sein. Ich bin unglaublich müde. Am liebsten hätte ich mich hier auf den Steinen in Embryostellung zusammengerollt und wäre eingeschlafen. Je näher ich dem Westpier komme, desto kälter und dunkler wird es und desto müder werde ich gleichzeitig.

„Warum bin ich so müde?" Aber auch auf diese Frage gibt es keine Antwort. Ich sinke auf die Knie. Meine Augenlider klappen herunter. Mein Kopf wird schwer. Ich merke, dass ich ihn nicht mehr lange halten kann. Schon schlägt er auf dem steinigen Strand auf. Ich spüre keine Schmerzen, sondern nur noch Erleichterung. Als hätte jemand eine große Last von meinen Schultern genommen. Ich stelle fest, dass ich nicht mehr atme. Aber das ist kein Problem. Es ist so ruhig. So wunderschön warm und ruhig.

Durch meine halb geschlossenen Lider sehe ich das Skelett des Westpiers aus dem Wasser ragen und die Silhouette einer Person daneben stehen. Um wen es sich dabei handelt, kann ich nicht erkennen. Regentropfen berühren meine Wangen wie Tränen. Um mich herum bricht ein Sturm aus. Der Wind liebkost mein Gesicht. Fast als würde er den Regen von meiner Stirn küssen. Er ist so stark, dass er mir neue Luft in die Lungen zu hauchen scheint. Ich spüre, wie mein Brustkorb sich heftig hebt und senkt.

„Ich will nicht schlafen", nuschele ich. Ich muss all meine Kraft zusammen nehmen, um wieder aufstehen zu können. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt etwas gemacht habe, das mir so schwer fiel. Vermutlich noch nie in meinem Leben.

Leben. Ich will leben. Ich will nicht sterben. Ich brauche Ewigkeiten, bis ich wieder stehe, aber dann drehe ich mich zum Brighton Pier um, der nun in der Sonne liegt. Noch immer strahlen und blinken seine Lichterketten hell. Ein heftiger Windstoß kommt auf und treibt mich auf den Pier zu. Es hört auf zu regnen. Die Wolken am Himmel werden von gleißenden Sonnenstrahlen durchbrochen, die auf den menschenleeren Strand hinabscheinen. Das goldfarbene Licht ist so hell und warm. Noch immer ruhe ich vollkommen in mir selbst, aber ich fühle mich viel energischer, lebendiger. Ich strotze vor Kraft und vor, ja, Luft. Ich nehme ein paar kräftige Atemzüge. Sie fühlen sich gut an und sind alles, was ich brauche, für den Moment.

Wie ferngesteuert laufe ich auf den Brighton-Pier zu. Ich betrete die Holzplanken und gehe zielstrebig zu den Fahrgeschäften. Noch immer begegne ich keiner Menschenseele. Trotzdem weiß ich, was ich tun muss. Als ich vor der Achterbahn stehe, schiebe ich die Absperrung beiseite und klettere in den ersten Wagen. Kaum dass ich sitze, geht es ruckartig los. Der Fahrtwind peitscht mir ins Gesicht. Ich werde in den Sitz gedrückt und höre, wie ich vor Freude kreische. Ich fahre immer schneller auf ein helles Licht zu, bis es mich vollständig umgibt. Ich kneife die Augen zusammen. Es ist so hell, dass ich nichts mehr sehen kann. Da wird mir bewusst, dass ich allein bin.

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