56. Die Katakomben von Orvieto (1)

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Mein Vater hält uns sein Smartphone entgegen. Auf der dort abgebildeten Karte erkenne ich, dass Orvieto mit dem Auto tatsächlich nur anderthalb Stunden von Siena entfernt ist. „Denkst du, dort hat Leonardo die ganze Zeit über gelebt?", frage ich erstaunt. So nah an Castiglione und dem Geheimbund. Ich kann es gar nicht fassen. Das würde ja gar nicht zu Kates Theorie, Leonardo könnte Australier sein, passen.

Doch mein Vater nickt nur langsam. „Ich denke, ja. Oder seine Zieheltern leben dort. Ich kann es dir nicht genau sagen. Leonardo dürfte ja mittlerweile schon ein junger Mann sein. Vielleicht studiert er irgendwo anders und wir finden in Orvieto die Familie, bei der er aufgewachsen ist. Also ich würde auf jeden Fall heute noch nach Orvieto fahren. Ihr könnt gerne mitkommen, aber das überlasse ich euch", antwortet mein Vater, „ich für meinen Teil möchte Leonardo unbedingt finden, damit dieser ganze Spuk endlich mal ein Ende hat."

„Ich bin dabei", werfe ich sofort ein. Dass er vorschlägt, allein zu fahren, macht mich fast ein bisschen wütend. Ohne mich hätte er Leonardos Aufenthaltsort schließlich nie gefunden.

„Ich auch", entgegnet Lucca.

Pietro stöhnt. „Also komme ich auch mit", antwortet er energisch.

„Du musst aber nicht", erklärt Lucca, als würde er mit einem kleinen Kind reden, „wir finden ihn bestimmt auch ohne dich."

„Ja klar, damit du ihn dann gleich unschädlich machen kannst... Auf gar keinen Fall."

„Hey, Brionny und Kate habe ich ja immerhin auch nichts angetan, oder?", argumentiert Lucca.

„Das ist was anderes, du bist in Brionny verliebt." Pietros Worte treffen mich wie Eiswasser. Ich lasse den Frühstückslöffel fallen, den ich soeben noch in der Hand gehalten habe. Klirrend kommt er auf dem Tisch auf. Meine Augen weiten sich. Lucca ist in mich verliebt? Hat er das etwa zu Pietro gesagt?

Lucca scheint sich davon jedoch nicht verunsichern zu lassen. „Ich habe mich schon vorher gegen Falcini gestellt, falls du dich erinnern kannst." Das, was Pietro gesagt hat, streitet er nicht einmal ab.

„Jetzt hört aber mal auf!", rufe ich aus. Ich möchte nicht, dass die anderen noch weiter sprechen. „Also ich gehe jetzt duschen und danach fahren wir nach Orvieto", bestimme ich für die alle. Dann schlüpfe ich ins Badezimmer, um mich der Situation zu entziehen. Mein Gesicht brennt wie Feuer, weil mir das alles so unangenehm ist. Als ich mich nun im Spiegel betrachte, bin ich knallrot. Ein komplettes Gegenteil zu letzter Nacht.

Kopfschüttelnd wende ich mich vom Spiegel ab, löse meine Verbände und begutachte zunächst meine Unterschenkel. Meine Beine sind grün und blau. Die Haut um die Wunde, die ich mir beim Baden mit Lucca zugezogen habe, ist erhaben und gerötet. Kein Wunder, dass mir das heute Morgen so sehr weh getan hat.

Mein Brustkorb sieht allerdings noch schlimmer aus als die Beine. Die Stelle, an der der Pfeil in meine Haut eingedrungen ist, zeichnet sich als blutige Kruste ab. Von dort aus verlaufen fünf dunkelrote, beinahe schon schwarze Streifen in unterschiedliche Richtungen. Es sieht entfernt aus wie ein Stern. Die angrenzende Haut ist ebenfalls grün und blau und spannt sich erhaben. Vorsichtig berühre ich sie, woraufhin ich vor Schmerzen zusammenzucke. Welch ein Teufelszeug haben mir die Cinquenti da nur verabreicht?

Die Strahlen der kalten Dusche prasseln angenehm über meinen Körper und spülen den getrockneten Schweiß fort. Endlich fühle ich mich wieder lebendig und sogar ganz wohl in meiner Haut. Nach dem ich mich frisch gemacht habe, geht es mir tatsächlich viel besser. Mein Vater klopft an der Tür zum Badezimmer und erklärt, dass er frische Kleidung für mich vor der Tür abgelegt hat.

Tatsächlich finde ich ein graues T-Shirt mit schwarzen Punkten, auf dem ein Bild von Mickey-Mouse prangt und dazu eine weite, schwarze Trainingshose mit weißen Streifen an den Seiten. Schon auf den ersten Blick erkennt man, dass er diese Kleider in irgendeinem Billigsupermarkt gekauft haben muss. Sie treffen nicht mal annähernd meinen Geschmack, aber das ist besser als nichts, also schlüpfe ich dort hinein. Die Haare binde ich zu einem Zopf zusammen. Dann gehe ich wieder zu den anderen. Mein Vater packt gerade seine Sachen. Ich gebe ihm sein Shirt zurück.

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