10. Ein Hauch Frühling

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Der Heimweg mit Philippe ist sehr in sich gekehrt. Auf der ganzen Strecke reden wir kein Wort miteinander. Währenddessen schimpft er vor sich hin und murmelt irgendetwas von wegen Grabschändung. Am nächsten Tag werde er bei der Polizei eine Anzeige erstatten, tönt er. Es könne ja nicht angehen, dass auf so eine rüpelhafte Art und Weise die Totenruhe gestört würde. Ich rolle nur mit den Augen. Soll er das doch machen. Ich mag ihn nun zwar mehr als vor unserem Treffen, aber ich muss zugeben, dass er doch etwas seltsam ist.

Zu Hause erwartet mich ein dunkles, fast leeres Haus. Als ich nach Kate schaue, schläft sie schon. Mum ist ebenfalls noch nicht da. Vermutlich ist sie noch auf der Arbeit. Mit einem dampfenden Tee verziehe ich mich auf mein Zimmer, in dem Bücher und Ordner feinsäuberlich aufeinander gestapelt liegen. Ich seufze, krame mein Tagebuch hervor und halte meine neuen Erkenntnisse darin fest.

Am nächsten Tag gehen Kate und ich mit John Lennon, dem Bernersennenhund meiner Großeltern, spazieren. Dabei sind wir beinahe zwei Stunden in der frischen Winterluft unterwegs. Währenddessen erzähle ich ihr von meinem Abendessen mit Philippe.

„Nun, da habe ich meine Wette mit Pietro ja gewonnen. Du hast es doch ziemlich lange mit Philippe ausgehalten", meint sie grinsend, „also mögt ihr euch?" Daraufhin verdrehe ich nur die Augen. Schön, dass sie als Erstes an eine Wette denkt. Dann wird sie jedoch wieder ernster. Besonders beschäftigt sie das, was ich über unseren Vater erfahren habe. Der Gedanke, er könnte die Seite gewechselt haben und nun Teil der Cinquenti sein, geht dabei am meisten mit ihr um. Als ich ihr davon erzähle, muss sie sogar ein paar Tränen unterdrücken. „Denkst du, er hat uns deshalb verlassen?", fragt sie.

„Kate, ich weiß es nicht. Mum redet kaum darüber", seufze ich.

„Und was würde er wohl tun, wenn er wüsste, dass wir Elementträgerinnen sind? Würde er uns verraten?", will sie wissen.

„Das kann ich dir auch nicht sagen", entgegne ich, „er ist verschwunden und ich glaube nicht, dass er so bald wieder auftaucht." Um ehrlich zu sein, kann ich ganz gut mit der Tatsache leben, dass er kein Teil meines Lebens ist. Dadurch ändert sich für uns nicht viel, selbst wenn er nun auf der Seite der Cinquenti stehen würde.

Für Kate dahingegen ist das unvorstellbar. Am liebsten würde sie sich sofort auf die Suche nach ihm machen. Sie war schon immer diejenige von uns, die mehr damit zu kämpfen hatte, keinen Vater mehr zu haben. Allzu oft hat sie sich gefragt, was er gerade tut, ob er noch an uns denkt und warum er uns verlassen hat. Manchmal spekuliert sie sogar darüber, welcher Arbeit er wohl nachgeht. In ihren Vorstellungen ist er immer Arzt, Pilot oder Soldat. Als ich erzähle, dass er zu Genetik forschte, wirkt sie fast ein bisschen enttäuscht.

„Forschung finde ich langweilig", sagt sie, „denkst du, er hat irgendetwas Besonderes herausgefunden? Zu den Elementen meine ich."

„Keine Ahnung", gebe ich zu. Darüber habe ich mir nicht sonderlich viel Gedanken gemacht. „Tatsache ist nur, dass er mit seiner Forschung aufhörte, bevor er zu irgendwelchen Ergebnissen kam." Sie möchte mehr über unseren Vater wissen, doch leider kann ich ihr nicht viel mehr erzählen. Deshalb durchlöchert sie unsere Großeltern mit Fragen zu diesem Thema, als wir John Lennon nach unserem Spaziergang wieder bei ihnen abliefern. „Dein Vater ist ein böser, böser Mann", flucht Nonna daraufhin nur, „er ist ein verlogener, falscher Bastard. Ich möchte ihn wirklich nie wieder sehen." Damit scheint das Thema für sie abgehakt und sie möchte nicht mehr darüber sprechen.

„Die Trennung deiner Eltern hat auch sie ganz schön mitgenommen", erklärt mir Grandpa später, „deine Mutter ist kurz darauf mit euch nach Großbritannien gezogen und deine Großmutter gibt ihm die Schuld daran. Deshalb ist das ein sehr emotionales Thema für sie."

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