32. Zwei

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Leonardo Falcini wuchs auf, ohne zu wissen, wer er tatsächlich war. Wenn man ihm erzählt hätte, dass sein Vater Giacomo, sowie seine Geschwister Alessia und Philippe Elementträger waren, hätte er vermutlich nur gelacht und das als Mumpitz abgetan. Folglich wurde er erwachsen, ohne je auf die Idee zu kommen, eines der vier Elemente beherrschen zu können.

Im Leben kam er gut zurecht, fand er zumindest. Klar, gab es ein paar Dinge, die er gern verändert hätte, aber er war ja noch jung. Er fand, dass ein Mann seines Alters, der erst am Anfang seiner Laufbahn stand, auch noch nicht alles erreicht haben musste. Ihm war nicht bewusst, wie wenig Zeit ihm dazu bleiben sollte.

Am ersten schönen Tag des Jahres hatte er es sich in einem Liegestuhl auf dem Balkon bequem gemacht, eine dünne Decke über seine Beine gelegt und ein Buch gelesen. Darüber war er nun eingeschlafen. Er hatte das Buch bereits zur Hälfte durchgelesen, als ihm die Augen beim Lesen zugefallen waren. Eigentlich hatte er nicht einschlafen wollen. Auf den letzten Seiten hatte er ziemlich darum gekämpft, wach bleiben zu können. Er hatte die Sätze aufgenommen, ohne ihren Sinn zu verstehen, nur um sie dann noch einmal von vorn lesen zu müssen. Aber auch nach dem zweiten oder dritten Mal waren sie nicht in seinem Kopf angekommen. Ständig drückte die Schwerkraft seine flackernden Augenlider hinunter und seine Bindehäute brannten, bis er sich schließlich ergab und in die Traumwelt hinabglitt. Er schlief nicht fest, aber in seinen Gedanken war er nun bei jenen Tagen seiner Kindheit, die er weit entfernt vom Geheimbund verbracht hatte.

Dabei fühlte er sich wohl und geborgen. Ein Gefühl, das ihm beim Erwachsenwerden immer mehr abhanden gekommen war. Aber so geht es vermutlich jedem Menschen, wenn er feststellt, dass die Welt doch nicht so ganz und heil ist, wie er es sich als Kind immer vorgestellt hat. Nach und nach schwinden die Illusionen. Manch einer schafft sich dann neue Vorstellungen, ein anderer wird pessimistisch. Leonardo gehörte weder zur ersten, noch zur zweiten Sorte. Er hielt sich selbst für einen Menschen, der ein sehr realistisches und gefestigtes Weltbild hatte.

Plötzlich ertönte ein lauter Knall, fast wie von einer Fehlzündung. Dadurch schreckte der junge Mann aus dem Schlaf hoch. Im ersten Moment wusste er gar nicht, wo er war. Es war viel zu hell draußen, um die Augen vollständig zu öffnen, also kniff er sie geblendet zusammen. Durch den Spalt zwischen seinen Lidern erkannte er das Buch, das ihm beim Hochschrecken aus den Händen gerutscht war und nun auf den hellen Fließen des Balkons lag. Augenblicklich erinnerte er sich wieder daran, wo er war.

Benommen schüttelte er den Kopf. Ein bisschen ärgerte es ihn, dass er eingeschlafen war. Eigentlich hatte er sich nur kurz ausruhen wollen, da er an diesem Tag noch eine Menge zu tun hatte. Er rieb ich über sein müdes Gesicht und streckte dann die eingerosteten Arme in die Höhe. „Also weiter geht's", sagte er zu sich selbst, schnappte seine Decke und das Buch und ging ins Haus. Er schloss die Balkontüre hinter sich. Dann lief er zielstrebig ins Badezimmer, um sich dort ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Das half ihm, wieder richtig wach zu werden. Er genoss das belebende Gefühl, als die kühlen Tropfen über seine Haut rannen. Dabei dachte er an den kommenden Sommer und wie schön es doch wäre, endlich wieder im Freien schwimmen zu können. Er liebte das Schwimmen und das Wasser, bloß kam er viel zu selten dazu. Vielleicht würde er dieses Jahr endlich wieder ein bisschen Zeit dafür finden.

Der junge Mann betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Tatsächlich sah er ein bisschen müde aus. Er schüttelte sich einmal. Da wurde die Luft um ihn herum von einem Energiestoß erfasst, der über sein Waschbecken hinweg fegte. Dieser Luftstoß war so mächtig, dass das Glas, in dem seine Zahnbürste mitsamt Zahnpasta stand, auf den Boden gefegt wurde. Das Glas zerbrach in dutzende Stücke. Fluchend eilte er aus dem Zimmer, um Schippe und Besen zu holen. So etwas passierte ihm in letzter Zeit öfter. Er hätte gern gewusst, warum dies so war, aber nie wäre er auf die Idee gekommen, dass es etwas mit den vier Elementen zu tun hatte. Vielmehr schob er die kleinen Missgeschicke, die ihm passierten, auf seine Unachtsamkeit.

Während er das Zimmer verließ, trat er aus Versehen in eine der Glasscherben. Nun fluchte er noch mehr. Vor Schmerzen und weil er jetzt auch noch das Blut aufwischen musste, das den Badezimmerboden benetzte. Mit zusammengebissenen Zähnen zog er die Scherbe aus seiner Ferse und den Socken aus, um den Schaden begutachten zukönnen, den das spitze Ding hinterlassen hatte. Seine Wunde blutete höllisch, schien aber nicht sonderlich tief zu sein. Trotzdem musste er sich erst darum kümmern, bevor er die Sauerei im Badezimmer beseitigte.

 Gerade als er sich im Erste-Hilfe-Koffer ein Pflaster holen wollte, schrillte auch noch sein Handy. Er stöhnte. Warum kam in solchen Momenten, in denen es absolut nicht passte, immer alles auf einmal? Humpelnd machte er sich auf die Suche nach seinem Mobiltelefon.

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