36. Im Sonnenuntergang (2)

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Mein Vater steht auf der Terrasse, die hinten an das Haus grenzt. Gemeinsam mit Bethany hat er Klappstühle bereit gestellt und einen Tisch, auf dem jede Menge Essen thront.

„Na komm!", meint Lucca, „wir frühstücken jetzt erst mal und dann sehen wir weiter." Ich nicke und lasse zu, dass er einen Arm um mich legt.

„Wünschst du dir an meiner Stelle zu sein?", frage ich.

„Wie meinst du das?"

„Na ja, wünschst du dir, deinen Vater wieder sehen zu können?"

Da lacht Lucca. „Klar wünsche ich mir das. Aber mein Vater ist tot, das ist was anderes." Natürlich ist das etwas anderes, aber ich fühle mich trotzdem unwohl und sogar ein bisschen schuldig.

Zusammen gehen wir zu meinem Vater und Bethany, die bereits den Tisch gedeckt haben. Ich gieße mir ein bisschen Kaffee in meine Tasse und trinke ihn schwarz. Das Koffein haucht mir neues Leben ein. Ich nehme mir eines der Croissants, die im Brotkorb mitten auf dem Tisch stehen und bestreiche es mit Butter und Marmelade.

Während dem Essen unterhalten sich Bethany und mein Vater größtenteils nur miteinander. Sie scheinen das nicht absichtlich zu machen, meist driften sie einfach so zu Themen ab, die sie beide interessieren. Immer wieder versuchen sie, Lucca und mich zu integrieren, aber das gelingt ihnen nicht wirklich. So fragt Bethany zum Beispiel nach meiner Schule in Großbritannien. Kaum dass ich geantwortet habe, beginnt sie von ihrer eigenen Schulzeit in den Staaten zu erzählen und von ihren Collegeerfahrungen. Das dürfte bei ihr keine zehn Jahre her sein. Ich schaue zu meinem Vater hinüber. Seine Schulzeit ist mittlerweile schon ziemlich lange her, doch beginnt auch er zu erzählen. „Ich war auch auf dem naturwissenschaftlichen Gymnasium", sagt er, „und du?"

„Klassisch", antworte ich, „allerdings durfte ich die Matura auch in den naturwissenschaftlichen Fächern absolvieren, damit ich meinen Abschluss in England anerkennen lassen kann. Ich würde gerne Medizin studieren. Eigentlich dachte ich an London, aber ich hab auch schon überlegt, vielleicht in Deutschland zu studieren."

„Deutsch ist aber schwer, das hatte ich in der Schule", entgegnet Bethany nur, „ich war mal zum Schüleraustausch dort irgendwo im Osten... Dresden glaube ich hieß die Stadt. Ich habe dort niemanden verstanden, dabei war ich eine der Besten in meinem Jahrgang." Ich muss an mich halten, um nicht die Augen zu verdrehen. Das ist ja schön, dass sie mal in Dresden war. Ab sofort geht es nur noch darum, wie witzig Bethanys Schüleraustausch war.

„Deutschland ist so weit weg", grummelt Lucca. Er sieht gar nicht so aus, als würde er meine Pläne gut finden. Daraufhin zucke ich mit den Schultern. Bevor wir das fünfte Element nicht besiegt haben, kann ich mich sowieso nicht auf die Uni konzentrieren und vorher stehen ja auch erst einmal noch meine mündlichen Abschlussprüfungen an.

Das Frühstück verleiht mir neue Kraft, wobei ich zugeben muss, dass das Rührei von meinem Vater tatsächlich köstlich schmeckt. Trotzdem nehme ich mir davon nicht viel. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es meine Kehle verstopft und mir davon schlecht wird.

Lucca versteht sich besser mit meinem Vater und Bethany als ich, obwohl sie sich die ganze Zeit über siezen. Tatsächlich ist er derjenige, der das Gespräch zwischen uns vier irgendwie am Leben erhält. „Sie waren als Kind auch einmal bei uns zu Besuch", stellt mein Vater fest, „in dem Sommer, bevor ich ging, habt ihr beiden euch angefreundet."

„Ja, davon haben Rosalinda und Timothy auch immer erzählt. Ich habe die letzten Sommer für sie gekellnert, nachdem ich mich um ihren Garten gekümmert habe. Ich habe nämlich eine Ausbildung zum Gärtner gemacht", sagt Lucca.

„Ach, einen Gärtner könnten wir hier auch mal gebrauchen. Wir wollen den Garten unbedingt ein bisschen aufpeppen. Ich hatte schon ma daran gedacht, vielleicht Gemüsebeete anzulegen. Dann könnten wir uns teilweise selbst versorgen", meint Bethany und lacht. Dabei zeigt sie auf den Garten um uns herum. Das Gras ist hoch und müsste dringend gemäht werden. Die Hecken  sind im Gegensatz dazu allerdings akkurat geschnitten und schirmen das Anwesen von neugierigen Blicken ab. Im Grunde genommen ist es hier ziemlich gemütlich und wenn die Situation nicht so absurd gewesen wäre, dann hätte ich mich vielleicht sogar wohl fühlen können.

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