45. 424.309 (1)

26 5 0
                                    

„Was denkst du bedeutet das?", fragt Pietro.

„Auf dem Pult", wiederhole ich, als wäre das vollkommen offensichtlich, „ich hätte es früher wissen müssen. Letzte Woche saß ich währen meiner Prüfung an einem Tisch in der Schule und ich glaube, ich saß auch früher schon mal dort. Auf jeden Fall waren da die Initialen von Maria eingraviert und darunter eine Zahl. Das muss es sein." Anders kann ich mir diese Worte nicht erklären. Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass ich vollkommen falsch liege, aber einen Versuch ist es wert.

„Aber wieso denn auf dem Pult?", fragt Pietro, so als würde er immer noch nicht verstehen, worum es geht.

„Naja, das ist ein anderes Wort für Tisch oder so", gebe ich zu bedenken, „auf jeden Fall ist das alles, was wir haben. Ich werde gleich morgen dorthin fahren und noch einmal nach der Zahl schauen." Ein bisschen ärgere ich mich, dass ich letzte Woche noch nicht Bescheid wusste. Dann hätte ich mir die Zahl direkt merken können.

Pietro nickt nur. Plötzlich sind schwere Schritte auf der Treppe zu hören. Ich kann förmlich sehen, wie die Farbe aus Pietros Gesicht weicht. Er sieht das Tagebuch an, als wollte er es so schnell wie möglich loswerden. Hastig reiße ich es aus seiner Hand und verstecke es wieder unter dem Kopfkissen. „Du solltest dir einen anderen Ort suchen, an dem du das versteckst", zische ich ihm zu, „dort ist es zu offensichtlich." Daraufhin nickt Pietro nur. Vorher lässt er mich aber schwören, dass ich niemandem von dem Tagebuch erzähle. „Wenn Giacomo herausfindet, dass ich es habe, macht er mich einen Kopf kürzer", flüstert er mir zu und legt mir dabei die Hände auf die Schultern, damit ich ihm in die Augen sehen muss.

„Entspann dich", sage ich zu ihm, obwohl ich mir nur allzu gut vorstellen kann, wie Giacomo wütend wird, wenn er das mit dem Tagebuch herausfindet.

Beinahe ohne Vorwarnung wird Pietros Zimmertür aufgerissen. Kate steht auf der Schwelle und sieht uns erwartungsvoll an. Völlig erschrocken weichen Pietro und ich auseinander, so als hätte sie uns gerade bei etwas Verbotenem ertappt.

„Kommst du Nini?", sagt sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Scheinbar fragt sie sich, was wir gerade tun. Doch sollte das der Fall sein, so entschließt sie sich dazu, nicht nachzuhaken. Stattdessen sagt sie: „Wir sollten fahren, es ist schon spät."

„Ja klar", antworte ich und bin fast erleichtert, dass sie nicht neugierig zu sein scheint. Zum Abschied umarme ich Pietro flüchtig. „Ich verrate es niemandem", flüstere ich ihm knapp ins Ohr. Dann machen meine Schwester und ich uns auf den Weg. Vorher verabschieden wir uns jedoch noch von Pietros Familie.

„Wir sehen uns dann am Samstag hier, wenn wir nach Apice fahren", sagt Giacomo, bevor wir gehen. Nur widerwillig bejahe ich. Noch immer habe ich nicht sonderlich viel Lust, mit den Elementträgern weg zu fahren. Doch mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben. Die Pause von drei Monaten, die Giacomo mir gewährt hat, ist vorbei. Ein unangenehmes Ziehen breitet sich in meinen Eingeweiden aus.

Schweigend machen Kate und ich uns auf den Weg zum Auto. Nur langsam lasse ich das Fahrzeug vom Hof der Bellucos rollen. Zuerst nehme ich an, dass meine Schwester müde ist und deshalb nicht mit mir sprechen möchte, aber dann merke ich, wie sie nachdenkt. Mit noch immer hochgezogenen Augenbrauen sieht sie mich von der Seite an.

„Was macht deine Wunde?", möchte sie wissen und deutet auf mein Bein. Um meine Verletzung, die ich mir am Wochenende beim Klettern über die Felsen zugezogen habe, ist eine Mullbinde gewickelt. „Alles gut", lüge ich, dabei pocht mein Unterschenkel wütend, nachdem ich den ganzen Tag darauf herum gelaufen bin. Ich bemühe mich jedoch, mir das nicht anmerken zu lassen.

„Du sag mal Nini, was ist im Moment eigentlich los?", fragt Kate und verschränkt dabei die Arme vor der Brust. „Ich fühle mich so weit weg von dir, ich hab das Gefühl, du erzählst mir gar nichts mehr." Oh je. Das musste ja kommen. Seit dem ich von Antonio Toscani erfahren habe, habe ich mich mehr und mehr vor ihr zurückgezogen. Um ehrlich zu sein möchte ich nicht, dass sie von unserem Vater erfährt. Vielleicht will ich sie nicht verletzen oder überfordern, vielleicht gibt es aber auch andere Gründe, die ich mir selbst nicht eingestehe. Auf jeden Fall hat sie Recht, wir haben schon lange nicht mehr so wirklich Zeit miteinander verbracht. Das letzte Mal, dass wir nur zu zweit waren, scheint bereits Wochen her zu sein. Trotzdem stelle ich mich dumm.

„Was sollte ich dir denn deiner Meinung nach erzählen?", frage ich.

„Wo du an dem Wochenende warst, als du gesagt hättest, du seist bei Stella", beginnt Kate, „oder wie du dir die Verletzung an deinem Bein zugezogen hast."

„Woher weißt du, dass ich nicht bei Stella war?", frage ich überrascht.

„Pietro hat's mir gesagt. Er war echt besorgt um dich." So ein Mist! Gleichzeitig bin ich erstaunt, dass sie mit dieser Information so lange dicht gehalten hat. Normalerweise fällt es Kate schwer, etwas für sich zu behalten. Doch nachdem ihr Schweigen nun gebrochen ist, sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus. „Ich weiß auch, dass du nicht mit Massimo schwimmen warst und dass du dich dort nicht verletzt haben kannst. Am Samstag war ich nämlich mit ihm ein Eis essen."

„Wie, du warst mit Massimo aus?", frage ich erstaunt. Oh je. Ausgerechnet mit diesem Aufreißer. Viel mehr trifft es mich jedoch, dass sie mir erst jetzt davon erzählt. Schließlich ist ihre Verabredung nun schon ein paar Tage her.

„Hast du etwa ein Problem damit? Und überhaupt... mit wem treibst du dich denn so herum?", pflaumt sie.

„Wow. Moment, wie kommst du dazu, mit Massimo auszugehen?", bricht es aus mir heraus. Ich bin mir nicht sicher, wie ich das finden soll. Aber ich weiß genau, dass ich ihr nicht verbieten kann, sich mit ihm zu treffen. Trotzdem bin ich unglaublich neugierig. Noch nie vorher ist meine Schwester mit einem Kerl ausgegangen und nun erzählt sie mir nicht mal davon. Ein bisschen fühlt es sich an, als würde sie erwachsen werden und ich bin nicht dabei.

Auf meine Nachfragen hin wimmelt Kate jedoch ab. „Reg dich ab. Wir waren nur als Freunde unterwegs, aber das geht dich eigentlich gar nichts an", mault sie, „du verrätst mir ja auch nichts. Hast du einen geheimen Freund oder so? Dann bist du nämlich kein Stück besser als Mum, die uns Antonio erst so spät vorgestellt hat." Dieser Vergleich trifft mich härter als ich zugeben möchte. Um ehrlich zu sein, bin ich ziemlich enttäuscht. Kate weiß genau, wo mein wunder Punkt liegt.

„Das geht dich gar nichts an, mit wem ich unterwegs bin", kopiere ich Kate. Es tut weh, dass so eine Kluft zwischen uns steht. Noch vor ein paar Monaten hätten wir einander alles erzählt.

„Ach ja. Bist du nicht auf die Idee gekommen, dass es mega gefährlich sein könnte, für Tage zu verschwinden, ohne dass du jemandem sagst, wo du hin gehst? Gerade jetzt, wo es einen Maulwurf im Geheimbund gibt." Sie sagt das mit so viel Nachdruck, dass ich richtig wütend werde. Allein die Betonung ihrer Worte reicht, um mich auf die Palme zu bringen.

„Es gibt aber keinen Maulwurf im Geheimbund", entgegne ich. Im nächsten Moment beiße ich mir auf die Zunge. Eigentlich hätte ich ihr das gar nicht verraten dürfen. Schließlich habe ich Pietro noch vor ein paar Minuten versprochen, niemanden zu erzählen, dass er das Tagebuch geklaut hat. Ich zwinge mich, ruhig zu bleiben. Nicht nur, damit ich Kate nichts mehr verrate, sondern auch, weil das Auto gefährlich auf die Gegenfahrbahn zuschlingert. Ich muss mich dringend auf die Straße konzentrieren!

Kate jedoch dreht zu Hochtouren auf. „Ach ja, woher willst du das wissen? Marias Tagebuch ist verschwunden. Oder hast du's doch geklaut? Jetzt willst du es bestimmt für dich allein. Würde dir ja ähnlich sehen. Du tust immer so stark und unabhängig, dabei stößt du alle immer nur von dir weg. Das ist jetzt nicht persönlich gemeint, aber du bist schon ein bisschen wie Mum, auch wenn du das nicht sein willst. Und jetzt mal ganz ehrlich, du triffst dich doch heimlich mit jemandem. Ist es Pietro? Seid ihr ineinander verliebt?" Diese Vermutung ist so absurd, dass ich lachen muss. Gleichzeitig bleibt mir das Lachen jedoch im Hals stecken. Das ist jetzt nicht persönlich gemeint... Oh doch liebe Kate, genau das ist es. Sie weiß, dass ihre Worte tief in mein Fleisch schneiden und obwohl ich es nicht will, werde ich wieder wütend.

„Ich halte gleich an und dann läufst du nach Hause!", werfe ich ihr entgegen.

„Mach's doch! Das ändert ja nichts. Damit läufst du nur wieder von der Wahrheit weg. Ich vermisse dich, ich vermisse meine Schwester." Die letzten Worte sagt sie mit vor Tränen erstickter Stimme. Nun probiert sie es also auch noch auf diese Tour. Mit einem Appell an mein ohnehin schon zum Bersten aufgeblasenes schlechtes Gewissen. Der sitzt tatsächlich ganz schön. Sei es, weil ich mich mit Lucca treffe oder weil ich niemandem von meinem Vater erzählt habe. Ständig komme ich mir vor, als würde ich die Leute, die mir wichtig sind, hintergehen. Ich atme einmal tief durch. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, ihr so viel zu erzählen, wie sie wissen muss.

„Ich war mit Lucca unterwegs", gestehe ich.

Die ElementeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt