59. Vier

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Der junge Mann saß am Schreibtisch und blätterte durch Arztbriefe und Rechnungen. Dabei versuchte er, sie zu ordnen, um ein System ins Chaos zu bringen. Es war keine Arbeit, die er gern tat, doch er wusste, wenn er das nicht machte, würde sich niemand darum kümmern. Manchmal kam es ihm so vor, als würden die Verpflichtungen nur so auf ihn einstürmen und ihn regelrecht überrennen. In diesen Momenten fragte er sich immer, wie ein Mensch das alles allein bewältigen konnte. Aber von wem sollte er die Unterstützung bei dem, was er tat, bekommen?

Am liebsten hätte er die Knie zur Brust gezogen, das Gesicht hinter den Händen verborgen und einfach nur geweint, bis er sich besser fühlte. Aber dazu blieb ihm keine Zeit. Vor dem Wochenende wollte er so viel wie möglich erledigen. Er mochte es, einen Haken hinter fertige Aufgaben setzen zu können, besonders wenn sie am Anfang wie unüberwindbare Hindernisse erschienen. Was vom Schreibtisch war, war aus dem Kopf, hatte sein Vater immer zu sagen gepflegt und der junge Mann hatte diese Ansicht von ihm übernommen.

Er seufzte. Wie immer, wenn er an seinen Vater dachte, durchzuckte ihn ein scharfer Stich. Es war nun beinahe acht Jahre her, dass er bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Manche Leute sagten, die Zeit heilt alle Wunden, aber das wollte und konnte der junge Mann nicht so ganz glauben. Wie war es denn sonst möglich, dass der Verlust eines Familienmitglieds selbst nach acht Jahren noch so sehr schmerzte? Wie viel Zeit musste vergehen, bis es für ihn in Ordnung war, dass sein Vater nicht mehr lebte?

„Du musst endlich mal lernen, los zu lassen, Alter", pflegte sein bester Freund immer wieder zu sagen. Aber loslassen war nichts, mit dem er sich leicht tat und vielleicht musste er ja auch gar nicht loslassen. Das Leben ging schließlich weiter, ob man das wollte oder nicht und jeder hatte sein Päckchen zu tragen, schleppte eine Geschichte mit sich herum, die er nicht los wurde. Bei ihm war es nunmal der tote Vater.

Dabei war es nicht mal sein leiblicher Vater. Seine Eltern hatten ihn adoptiert, nachdem ihre besten Freunde, die leiblichen Eltern des jungen Mannes, beim Einsturz einer Eisenbahnbrücke ums Leben gekommen waren und ihn zurück gelassen hatten. Er war damals noch ein Baby gewesen und hatte keine Erinnerungen mehr an seine biologischen Eltern. Der junge Mann seufzte. Das machte ihn wohl in zweifacher Art zu einer Waise. Er schüttelte den Kopf. Zu viele Unfälle. Zu viele zerrissene Familien.

Für einen Moment dachte er an die Jahre seiner Jugend zurück, die er in Schottland verbracht hatte. Das waren die absolut glücklichsten Erinnerungen in seinem bisherigen Leben. Er dachte an die dunklen Wälder, die Hügel, das aufgepeitschte Meer und das alte Herrenhaus, in dem seine Familie damals gelebt hatte. Dann musste er an die junge Frau denken, in die er verliebt war. Wie gerne wäre er mit ihr in die schottischen Highlands geflogen und hätte ihr all die Plätze gezeigt, an denen er mit seinen Adoptivbrüdern Verstecken gespielt hatte oder den See, an dem er mit seinem Vater angeln war. Aber im Moment war das nicht möglich.

Er wandte sich dem Papier auf seinem Schreibtisch zu. Dann lochte er die Blätter und heftete sie in einen schweren Ordner. Er freute sich aufd as Wochenende, das vor ihm lag. Heute Abend würde er sie treffen, die Frau, die er liebte. Es kam ihm vor, als hätte er sie bereits seit Tagen nicht gesehen, dabei hatte er sich erst vor wenigen Stunden von ihr verabschiedet. Er mochte es, wenn sie bei ihm war und die Art und Weise, wie sie ihn ansah. Dabei hielt sie ihn stets auf Abstand, doch das machte sie auch so interessant für ihn.

„Lucca", hörte er plötzlich eine schwache Stimme hinter sich sagen. Erschrocken zuckte er zusammen. Die Stimme war nicht lauter als ein Flüstern und klang kraftlos. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend drehte er sich um. Auf der Schwelle zu seinem Zimmer stand seine Mutter. Sie stütze sich am Türrahmen ab, als würde sie es nicht schaffen, ohne Hilfe auf ihren Beinen zu stehen. Den Oberkörper hielt sie dabei vornübergebeugt. Die stumpfen, dünnen Haare hingen bis zu ihren Schultern herab und unter ihren ausdrucksleeren, regenbogenfarbenen Augen zeichneten sich tiefe, dunkelblaue, fast schwarze Ringe ab. Die ledrige, trockene Haut hing schlaff über ihren Wangenknochen. Wenn er sie ansah, konnte er manchmal nur noch die Krankheit erkennen, die sie von innen auffraß und nicht mehr die Frau, die seine Mutter eigentlich war. Es grenzte schon fast an ein Wunder, dass sie es überhaupt geschafft hatte, an diesem Tag das Bett zu verlassen.

„Ja, was ist denn?", fragte er. Dabei klang er angespannter, als er es beabsichtigte. Er sorgte sich sehr um sie, doch ihre Krankheit trieb ihn manchmal an den Rand seiner Kräfte. Mittlerweile war er am Ende seiner Geduld angelangt. Wie oft hatte er schon mit ihr gesprochen, aber er hatte den Eindruck, dass seine Worte nicht bei ihr ankamen. Eigentlich brauchte sie dringend Hilfe. Wut und Verzweiflung stiegen in ihm auf. Das konnte so nicht weiter gehen.

„Ich... ich muss mit dir reden", sagte sie, „ich kann das nicht mehr für mich behalten."

Andeutungen dieser Art hatte sie bereits öfter gemacht und nie gesagt, worüber sie denn mit ihm reden wollte. Immer, wenn er nachgefragt hatte, hatte sie abgeblockt. Um ehrlich zu sein, glaubte der junge Mann schon lange nicht mehr daran, dass es irgendetwas Wichtiges gab, was sie ihm erzählen musste. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass ihm keine Zeit für ein langes, ausgedehntes Gespräch mit seiner Mutter blieb.

„Muss das jetzt sein?", fragte er, „Lugo kommt gleich vorbei, vielleicht kannst du mit ihm reden?" Er wusste ganz genau, dass es unfair war, diese Aufgabe auf seinen Bruder abzuwälzen, doch er fühlte sich gerade nicht in der Lage, mit seiner Mutter zu reden.

Für einen kurzen Augenblick sah die Mutter ihrem Sohn direkt in die Augen. Beinahe so, als wollte sie damit sagen, dass sie Lugo diese Sache nicht anvertrauen konnte, sondern dass sie es ihm, Lucca, erzählen musste.

„Ach, alles okay", antwortete sie nur und zuckte fast schon beiläufig mit den Schultern. Und so verging der Augenblick, in dem sie bereit war, sich zu öffnen.

Vorsichtig berührte Lucca seine Mutter am Arm. Er wollte ihr so gerne helfen. Doch dazu musste er Professor Falcini zuerst das Handwerk legen. Vielleicht kam er diesem Ziel an jenem Abend ja einen Schritt näher.

Der junge Mann hoffe so sehr, dass er endlich finden würde, wonach er suchte. Er musste der Frau, die er liebte helfen, Professor Falcinis Enkel Leonardo aufzuspüren. Zu diesem Zeitpunkt ahnte Lucca nicht, dass ihm Leonardo näher war, als er es sich je hätte erträumen können. Leonardo stand nämlich gerade vor seiner schwer depressiven Adoptivmutter und versuchte, sie zu beruhigen. Nachdem er sie ins Bett gebracht hatte, zog Leonardo den Diamantstecker aus, der in seinem linken Ohrläppchen steckte und der seine wahre Fähigkeit zur Kontrolle über ein Element verschleierte. Dann schwang er sich auf sein Motorrad und fuhr dem Rätsel um seine eigene Identität entgegen.

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