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Ich versuche es mit derselben Lüge wie in der Schule. „Ich habe meine Armbanduhr vergessen", sage ich, „ist Pietro da?"

„Ja klar, aber der schläft noch", antwortet Gaia, noch immer ziemlich perplex. „Alles klar. Vielen Dank!" Ohne ihr mehr zu erklären stürme ich an ihr vorbei und hinauf in den zweiten Stock zu Pietros Zimmer. Ohne anzuklopfen, reiße ich die Tür auf und schließe sie dann vorsichtig hinter mir. Tatsächlich liegt Pietro noch in seinem Bett. Als ich eintrete, zuckt er erschrocken zusammen und reibt sich verwundert über die Augen. „Oh mein Gott. Was zur Hölle machst du denn hier?", fragt er, sobald er mich sieht. Seine Stimme ist nicht mehr als ein verschlafenes Krächzen. Trotzdem schaut er mich verärgert und zugleich erschrocken an.

„Ich habe das Rätsel gelöst", erkläre ich ihm im Flüsterton.

„Wie bitte?"

„Ich habe das Rätsel gelöst", sage ich nun ein bisschen lauter. Hastig setze ich mich neben ihm aufs Bett, woraufhin er erschrocken vor mir weg rutscht.

„Man kann anklopfen Brionny", grummelt er, „oder zu vernünftigen Zeiten vorbeikommen." Ohne Pietro zu beachten greife ich unter sein Kopfkissen, wo Marias Tagebuch noch immer liegt und schlage es auf. Mensch, das muss echt ziemlich unbequem sein, mit so einem harten Ding unter dem Kopf zu schlafen.

Maria hat am ersten September 1954 angefangen, in ihr Tagebuch zu schreiben. Die Ereignisse vom 05.12.1953 hat sie folglich nicht festgehalten. Enttäuscht blättere ich durch die Seiten des Tagebuchs. Wie Pietro mir bereits erklärte, hat sie scheinbar ohne System einige der Seitenzahlen umkreist. Die Bleistiftstriche sind so fein, dass mir das zuvor gar nicht aufgefallen ist.

„Und?", fragt Pietro.

„Scheinbar doch nicht", gebe ich zu. Ich blättere vor bis zum 05.12.1955. Der Eintrag für diesen Tag steht auf Seite 42. Auf Seite 43 steht der Eintrag für den 05.12.1956, ein Jahr später. Beide Seitenzahlen sind umkreist. Erschrocken halte ich die Luft an. Vielleicht bin ich doch auf dem richtigen Weg. Schnell überfliege ich die Seitenzahlen und Daten. Maria hat nur noch einmal an einem fünften Dezember in ihr Tagebuch geschrieben und zwar am 05.12.1973. Dieser Eintrag steht auf Seite 109 des Tagebuchs, wobei sie hierlediglich die 09 eingekreist hat. Zusammen ergeben die umkreisten Zahlen 424309.

Schnell kritzele ich diese Zahl unter das Datum auf meinen Arm.

„Was bedeutet das?", will Pietro wissen, der erstaunt beobachtet hat, was ich da mache. „Ich weiß es nicht", gebe ich zu.

„Oh Mann... diese Rätsel nerven. Es ist wie in einem Escape Room", mault Pietro und legt den Kopf auf die Decke zurück. Bei diesem Vergleich muss ich lachen. Ein bisschen Recht hat er ja schon. Langsam gebe ich Pietro das Tagebuch zurück. Vorher muss er mir jedoch versprechen, dass er es diesmal wirklich an einem sichereren Ort versteckt. Er beteuert mir hoch und heilig, dass er das tun wird und scheint froh zu sein, dass ich ihn nun weiter schlafen lasse.

Sobald ich zu Hause bin, notiere ich sowohl das Datum als auch die Zahl, die ich gefunden habe, in meinem Notizbuch. Vielleicht weiß mein Vater ja, was das bedeuten kann. Bei einem Blick auf meinen Kalender stelle ich fest, dass ich mir für nächstes Wochenende ein Treffen mit ihm eingetragen habe. Am Freitag kommt er zu einer Fortbildung in Siena und als wir bei ihm im Norden waren, hat er gefragt, ob wir uns an diesem Tag treffen wollen. Wenn ich an das potentielle Treffen mit meinem Vater denke, breitet sich ein unangenehmes Ziehen in meinen Eingeweiden aus. Noch immer hat er sich nicht bei mir gemeldet und ein Teil von mir zweifelt, dass dieses Treffen überhaupt stattfinden wird.

Um mich abzulenken, laufe ich meine Standardstrecke. Nach ein paar Kilometern beginnt die Wunde an meinem Bein zu pochen und ich muss langsamer machen. Darüber ärgere ich mich besonders und wie immer, wenn es im Sport nicht so klappt gönne ich mir danach ein besonders großes Glas Eistee.

Nachmittags gehe ich zu meinen Großeltern, um in ihrem Restaurant auszuhelfen. Da Lucca, der in den letzten Sommern bei meinen Großeltern beschäftigt war, nun nicht mehr für sie arbeitet, brauchen sie Ersatz für ihn. Also müssen Kate und ich aushelfen. Meine erste Schicht im Tre Panocchie steht für den Dienstagabend an. Nachdem wir die Gaststädte gründlich geputzt haben, stellen wir die Tische nach draußen. Grandpa bedient den Mittagstisch noch allein, während ich John Lennon ausführe und abends schmeißen wir den Laden dann gemeinsam.

Gegen sechs Uhr kommen die ersten Gäste. Die meisten von ihnen sind Touristen, denn die Italiener essen nicht so früh zu Abend. Viele der Gäste freuen sich darüber, dass ich Englisch spreche und manche erzählen mir sogar von ihrem Tag am Strand. Oft wollen die Leute aber auch wissen, was beliebte Ausflugsziele sind oder welchen Wein sie am besten zum Essen trinken. Wenn sie mich das fragen, empfehle ich natürlich einen Wein der Bellucos.

Um neun trudeln dann langsam die Italiener ein. Manche sind Stammgäste im Tre Panocchie. Die meisten kenne ich sogar vom Sehen. Diese Leute sind noch geschwätziger als die Touristen. Sie wollen alles über mich wissen, wobei sie da schon ziemlich gut im Bilde sind. Die meisten beglückwünschen mich zum Schulabschluss und eine ältere Dame sagt mir, wenn ich wollte, könnte ich mich mal mit ihrem Schwiegersohn unterhalten, der sei Arzt, denn sie habe gehört, ich wolle Medizin studieren.

„Was habt ihr diesen Leuten bloß über mich erzählt?", frage ich Grandpa in einer freien Minute kopfschüttelnd. Ich fülle gerade Getränke nach, während er hinter der Theke steht und die Gläser poliert. „Schau mich nicht so an", meint er nur abwehrend, „das war deine Großmutter." Na das hätte ich mir auch denken können. Sie kennt schließlich fast den halben Ort.

Alles in allem ist das Kellnern im Restaruant keine Arbeit, die ich gern mache, aber Grandpa scheint sich wenigstens darüber zu freuen, dass ich aushelfe. Er wirkt fast ein bisschen stolz und am Ende des Abends meint er, ich könne das gesamte Trinkgeld von heute behalten. Natürlich teile ich es dann doch mit Mum und Antonio in der Küche.

Nach der Schicht bin ich fix und fertig. Im Winter habe ich ein paar Mal hier ausgeholfen, aber bis jetzt war ich jedes Mal danach so müde, dass ich nur noch ins Bett und schlafen wollte. Zusammen mit Grandpa stelle ich die Stühle hoch und fege noch einmal durch. Mum und Antonio kommen aus der Küche. Sie sehen nur halb so müde aus wie ich. Zu Hause machen sie sich noch etwas zum Essen warm und wollen gemeinsam einen Film anschauen. „Magst du mit schauen? Wir schauen „Ein Zwilling kommt selten allein"  mit Lindsay Lohan. Den mochtest du doch so als Kind, Brionny", schwärmt Mum.

„Es ist zwei Uhr nachts. Ich glaube, ihr spinnt", erwidere ich nur. Wie kann man nur so einen verschobenen Tagesrhythmus haben? Kopfschüttelnd gehe ich sofort auf mein Zimmer. Alles was ich will, ist schlafen.

Tatsächlich brauche ich ein bisschen, bis ich endlich einschlafen kann. Mir kommt es so vor, als sei mein Körper viel zu erschöpft, um endlich Ruhe zu finden. Daran ändert sich auch nichts, als Lucca mir Mitten in der Nacht schreibt, dass er mir etwas zeigen möchte und fragt, ob wir uns am nächsten Tag am Palazzo treffen wollen. Im Gegenteil, ich werde nur noch aufgewühlter und vor lauter Vorfreude wälze ich mich von einer Seite auf die andere.

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