Glitzernd und still legen sie sich im fahlen, eintönigen Licht der Straßenlaterne auf das Kopfsteinpflaster. Die Schneeflocken. Über Nacht bedecken sie heimlich das ganze Land und verursachen dabei kaum Geräusche. Vielleicht haben sie deshalb etwas beinahe Magisches an sich. Jede von ihnen ist einzigartig. Doch die feinen Unterschiede der Schneeflocken kann man vom Fenster aus nicht erkennen. Vielmehr wirken die Eiskristalle wie flauschig weiche Wattebällchen, die in einem chaotischen Gestöber vom Himmel auf die Erde hinunter fallen. Sie verleihen der Kälte und der Dunkelheit, die draußen herrschen, etwas Friedliches und machen den sonst so grauen und eintönigen Winter zu etwas Besonderem.
Gefrorenes Wasser. Eines der vier Elemente in einem ganz anderen Zustand. Und nichts desto trotz bleibt es Wasser. Kontrollierbar für einige, ganz besondere Menschen.
Vorsichtig berühre ich die kalte Fensterscheibe. Die vier Elemente. Wie viel einfacher und sorgenfreier alles ohne sie wäre. Das Leben von meiner Schwester und mir wäre ganz normal und käme mir nicht wie irgendeine abgedrehte Geschichte vor, die sich jemand ausgedacht hat. Für einen kurzen Moment sehne ich mich nach meinem alten Leben zurück. Zurück nach damals, als alles noch anders war, als alles noch so normal erschien. Diese Zeit scheint so weit entfernt und gleichzeitig doch so nah zu sein, dass ich sie beinahe greifen kann. Ein scharfer Stich voll Melancholie durchzuckt mich.
„Brionny, was ist? Können wir jetzt weiter machen?" Seufzend wende ich mich von meinem Fenster und den Schneeflocken ab und kehre in die Realität zurück. Ich sitze in meinem Zimmer auf dem Schreibtischstuhl, den ich ans Fenster geschoben habe. Ein grelles Licht von der Decke beleuchtet den Raum und erhellt Ordner, Schulbücher, Aufzeichnungen, so wie ein Durcheinander von Aufgabenblättern, die auf dem Boden verstreut liegen. Zwischen ihnen sitzt mein bester Freund Pietro Belluco. Er hat die Beine im Schneidersitz übereinander gelegt. Auf seinen Knien ruht ein Oxford Dictonary für Synonyme und mit dem Rücken lehnt er sich gegen mein Bett. Währenddessen versucht er, seinen Englischaufsatz zu bearbeiten.
„Hm ja, hab bloß nachgedacht", nuschele ich und lächele entschuldigend.
„Über die Elemente?", fragt Pietro und errät meine Gedanken sofort. Langsam nicke ich. In letzter Zeit muss ich oft an die Elemente denken. Zumindest dann, wenn ich gerade nicht mit Lernen beschäftigt bin. In knapp zwei Monaten stehen nämlich die Abschlussprüfungen an. Deshalb treffen Pietro und ich uns mindestens einmal in der Woche zum Lernen. Da Pietro grottenschlecht in Englisch ist, gebe ich ihm Nachhilfe. Englisch ist meine zweite Muttersprache und Pietro nimmt meine Verbesserungsvorschläge gerne an. Aber auch für die anderen Fächer lernen wir zusammen. Zwei Köpfe sind bekanntlich ja meist klüger als einer.
„Du weißt, dass du immer mit mir reden kannst?", fügt Pietro langsam hinzu, als ich ihm nicht antworte.
„Ja, das weiß ich und dafür bin ich auch unglaublich dankbar." Mit dem Schreibtischstuhl rutsche ich vorsichtig über die lose Diele vor meinem Fenster. Sie knarrt leise und verräterisch. Fast schon ironisch, dass damals, vor ungefähr neun Monaten alles mit dieser losen Diele angefangen hat. Damals bin ich mit meiner Familie in eine Kleinstadt an der Küste der Toskana gezogen, in ein Haus, das meine Großeltern geerbt haben. Unter der losen Diele in meinem Zimmer habe ich das Tagebuch der Vorbesitzerin gefunden. Maria Vecca, Pietros Großmutter.
Anfangs fand ich es ziemlich spannend, etwas über Maria und ihr Leben zu erfahren, bis sie schließlich von den Legenden von Pergula berichtet hat, laut denen einige Menschen angeblich über die vier Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft herrschen können. Marias Sohn, Pietros Onkel Giacomo beherrschte alle vier Elemente, weshalb dessen Vater Bernardo Falcini, der von dem geheimnisvollen fünften Element besessen ist, nach Giacomos Leben und dem aller Elementträger trachtete. Maria ist Bernardo Falcini mit ihrem Sohn damals nur knapp entkommen.
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Die Elemente
FantasyKate und ich wechseln einen erstaunten Blick. Das ist es also, Marias Geheimnis. Der Grund, aus dem sie uns ihr Tagebuch vermacht hat. "Unglaublich", flüstert meine Schwester. Sie scheint genauso erschüttert zu sein wie ich. Endlich haben wir die fe...