63. Der verlorene Sohn (2)

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Für einen kurzen Augenblick scheint die Welt still zu stehen. Die Haare an meinen Armen stellen sich auf. Ich spüre eine Macht, die so stark ist, dass ich sie beinahe inhalieren könnte. Dann verrücken sich alle Kirchenbänke zur selben Zeit. Sie versperren Giacomo den Weg. Verärgert schreit dieser auf. Im Affekt schleudert er die Pistole von sich. Mit ungelenken Bewegungen klettert er über die Bänke auf Lucca zu. Dabei bleibt er mit dem Fuß hängen und stürzt. Fluchend zieht er sich an der Sitzlehne wieder hoch.

Lucca wirft ihm jedoch keinen Blick mehr zu. Beinahe mit einer gruseligen Ruhe in den Beinen, wendet er sich um. Ganz langsam verlässt er die Kirche durch den Mittelgang. Der Offizier, der auf mir kniet, springt auf die Beine und hechtet Lucca nach. Kribbelnd kehrt Gefühl in meine Hände und Füße zurück. Im ersten Moment begreife ich nicht, was gerade geschieht. Dann realisiere ich, das ich frei bin. Mein Blick gleitet hinüber zu Giaccomo, der sich immer noch abmüht, über die Kirchenbänke zu klettern. Ich darf keine Zeit verlieren. Ich muss hier weg. Schließlich habe ich Lucca versprochen, dass ich immer da sein werde und dass wir das zusammen durchstehen.

Hinter dem Offizier stolpere ich aus der Kirche. „Ich bleibe bei dir, ich lasse dich nicht allein." Diese Worte hallen wie ein Mantra in meinem Kopf wider.

Auf dem Platz vor der Kirche sehe ich wie Lucca in einer Häuserreihe verschwindet. Der Offizier sprintet ihm nach. Da wird er plötzlich von einer Windböe erfasst und auf dem Boden geschleudert. Im ersten Moment kann ich gar nicht glauben, was passiert. Erschrocken stürme ich auf den Offizier zu. Stöhnend und mit geschlossenen Augen liegt er auf dem Boden. Sein Brustkorb hebt und senkt sich heftig. Auf den ersten Blick scheint er nicht schwer verletzt zu sein. Vorsichtig bringe ich ihn in die stabile Seitenlage und achte darauf, dass sein Kopf überstreckt ist. Dann sehe ich mich nach Lucca um. Ich kann ihn nirgends erkennen. Die Wolken am Himmel sind mittlerweile so dunkel und dicht, dass es richtig dämmrig ist. Der Regen prasselt erbarmungslos auf die Erde hinab, sodass es mir schwerfällt, die Augen offen zu halten.

Halb blind stolpere ich in die Richtung, in der Lucca verschwunden ist. Was hat er vor? Ich rufe seinen Namen, aber das Getöse des Sturms verschluckt meine Stimme. „Ich bleibe bei dir, ich lasse dich nicht allein." Ich darf ihn nicht verlieren. Wie von selbst beschleunigen meine Beine ihre Geschwindigkeit. Mein Körper läuft zu Hochtouren auf. Ich springe über eine halb umgestürzte Mauer. Unkraut verfängt sich in meinen Schnürsenkeln, als würden grüne Finger nach meinen Knöcheln greifen, doch ich hebe die Füße mit aller Kraft, die ich habe. Die Pflanzen halten mich nicht auf.

Plötzlich durchläuft ein Zucken den Boden. Ich schreie und verliere den Halt. Für einen Moment weiß ich nicht, wo oben und unten ist. Alles dreht sich. Auf allen Vieren krabbele ich in einen Hauseingang. Auf der Türschwelle kauere ich mich zusammen. Ziegel und einzelne Steine fallen vor mir auf die Straße und zerspringen in tausende Stücke. Schützend hebe ich die Arme über den Kopf. Der Boden unter meinen Knien vibriert regelrecht. Ich erkenne, wie sich einzelne Risse zwischen den Steinen auf der Straße auftun.

Was ist das? Etwa ein Erdbeben? Ich erinnere mich daran, wie mein Vater gesagt hat, viele der Gebäude in Apice seien aufgrund eines Erdbebens einsturzgefährdet. Unter großen Anstrengungen, nicht erneut umgeworfen zu werden, stemme ich mich wieder auf die Füße. Da endet das Erdbeben so unmittelbar wie es begonnen hat. Auf einmal scheint es beinahe unnatürlich still zu sein.

Der Tag um mich herum ist noch schwärzer geworden. Für einen kurzen Moment erhellt ein Blitz die schaurige, unwirklich Szenerie. In der Ferne grollt ein Donner. Auf den Straßen Apices herrscht Weltuntergangsstimmung. So ein Mist! Ich muss Lucca finden. Ziellos stolpere ich weiter und rufe seinen Namen. Doch es ist zwecklos. Genauso gut hätte ich in ein leeres Nichts schreien können.

Da erleuchtet auf einmal ein rot-orangenes Flackern die dunklen Wolken am Himmel. Feuer. Alessias Element. Wo Alessia ist, da müssen auch die anderen sein. Vielleicht ist Lucca ja auf dem Weg zu ihnen. Oder zu den Cinnquenti. Ein Anhaltspunkt ist es zumindest. Hastig laufe ich in die Richtung, in der ich das Feuer vermute. Im Grunde ist es nicht schwer. Ich muss einfach nur dem Licht folgen. Trotzdem irre ich orientierungslos durch die Gassen. Die Luft sticht in meinen Lungen. Ich spüre, wie mir die Verzweiflung mehr Kraft verleiht. Was mich antreibt, kann ich nicht genau sagen, aber da ist etwas in mir, das nicht aufgeben möchte.

Die Straße endet aprupt in einem freien Platz. Die Häuser, die hier stehen, sind beinahe vollkommen eingestürzt. Nur einzelne Mauern ragen noch in den schwarzen Himmel. Durch die Mitte dieses Platzes zieht sich Riss durch den Boden. Er ist regelrecht zu einer tiefen klaffenden Schlucht geworden. Überall brennen kleine Feuer, die das Spektakel in ein gruseliges Licht rücken. Selbst der Regen, der vom Himmel fällt, kann die Flammen nicht löschen. In dem flackernden Licht scheinen die dunklen Wolken lila und grün. Es ist, als würde der Himmel jeden Moment aufbrechen und etwas Abscheuliches offenbaren.

Auf der Seite der Schlucht, auf der auch ich mich befinde, stehen Kate, Alessia und Philippe. Sie halten einander an den Händen. Da sie mir den Rücken zudrehen, kann ich ihre Gesichter nicht erkennen.

Ihnen gegenüber auf der anderen Seite der Schlucht stehen Emma, Hector, Serafino und Ludo. Jeder von ihnen hat einen Ausfallschritt eingenommen und hält die Hände schützend vor der Brust erhoben. In ihren Augen ist ein verrücktes, magisches Funkeln, so wie ich es noch nie bei einem Menschen gesehen habe. Ihre Gesichter sind so verzerrt, dass sie nur noch annähernd menschlich wirken. Unwillkürlich muss ich daran denken, dass die erste Generation der Cinquenti Gestaltwandler waren. Trifft das auf die vier dort auch zu? Sie wirken gequält und dennoch strotzen sie nur so vor Kraft. Sogar bis dort, wo ich stehe, ist ihre Macht spürbar.

Auf einmal zuckt ein Kraftblitzüber den Himmel. Ich kann ihn zwar nicht sehen, aber sehr wohl wahrnehmen. Dieser Kraftblitz rast auf einen Feuerball zu, der aus Alessias Händen hervorschießt. Als die Elemente aufeinandertreffen, scheint der Himmel zu explodieren. Tausende Funken stieben wie bei einem Feuerwerk durch die Luft.

Die Cinquenti wissen, sich mit dem fünften Element zu schützen, doch auf die anderen drei rasen die Funken beinahe ungebremst zu. Philippe duckt sich reflexartig, doch dann schießen dutzende kleine Wassersäulen auf die Funken zu. Das Wasser fängt sie ein und macht unschädlich. Erleichtert atme ich auf. Kate.

Da fällt mein Blick plötzlich auf Lucca. Er kauert hinter der Mauer eines halb eingefallenen Hauses. Stumm beobachtet er den Kampf der Elemente, der sich vor ihm abspielt. Noch macht er keine Anstalten, einzugreifen.

Im Schutz der Mauern husche ich zu ihm hinüber. Niemand beachtet mich. Scheinbar sind die anderen so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie gar nicht wahrnehmen, was um sie herum passiert. Auch Lucca merkt nicht, dass ich mich von hinten anschleiche. Erst als ich mich neben ihn in den Schutz der Mauer kauere, zuckt er zusammen. Als er mich sieht, wirkt er erleichtert. Für einen kurzen Augenblick huscht sogar ein Lächeln über seinen Mund. Aber die Freude des Wiedersehens währt nicht lange. Das flackernde Licht der Flammen tanzt über seine kantigen Wangen. Die Verzweiflung in ihm ist so stark, dass er sie beinahe mit jeder Pore ausdünstet.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll", sagt er. Obwohl er nur flüstert, verstehe ich jedes Wort, das er seinen Mund verlässt, gestochen scharf. „Ich kann das nicht."

„Doch, du kannst", entgegne ich, „und ich lasse dich dabei nicht alleine. Wir machen das zusammen." Mit diesen Worten ergreife ich seine Hand. Lucca nickt, so als würde ihm das genug Kraft verleihen, um zu tun, was er tun muss. Wir nicken einander zu. Dann treten wir aus dem Schutz der Mauer auf den freien Platz. Mitten in den Kampf der Elemente.

Die ElementeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt