66. Schluss mit Geheimnissen (1)

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Nur langsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Für einen kurzen, aber trotzdem scheinbar eine Ewigkeit anzudauernden Moment, weiß niemand etwas zu sagen. Schließlich beginnt Kate als erste wieder zu sprechen. Unter ihren Worten zucke ich beinahe erschrocken zusammen. „Wir haben uns schon gefragt, wo du steckst, weißt du. Wir sind ja hergekommen, um ein bisschen zu experimentieren und zu schauen, ob Philippe Erdbeben erzeugen kann, die er kontrollieren kann. Und dann haben uns plötzlich die Cinquenti angeriffen. Ihr wisst auch nicht, warum, oder?"

Ihre Frage dringt erst nach einem Moment zu mir durch. Schwach schüttele ich mit dem Kopf. Warum die Cinquenti ausgerechnet zu dem Zeitpunkt angegriffen haben, als sie zu viert waren, weiß ich nicht. Allerdings ist mir die Antwort darauf auch herzlich egal. Außerdem glaube ich nicht, dass sich dadurch etwas verändern wird. Zumindest nicht für mich. Mein Blick gleitet zu Lucca hinüber.

Am liebsten hätte ich ihn an der Hand genommen, doch bei dem Gedanke daran, wird mir unwohl zumute. Ich kann nicht genau erklären warum, aber ich möchte ihm im Moment einfach nicht nahe sein. Schnell wende ich mich ab und betrachte stattdessen meine Umgebung.

Jetzt, in den warmen, nachmittaglichen Sonnenstrahlen scheint Apice zwar friedlicher, aber ungleich verlassener und noch zerfallener als bei dem Sturm. Überall sind eingestürzte, rissige Hauswände und an dem Unkraut, das sich zwischen den Steinen hervordrängt, erkennt man, dass hier schon lange kein Mensch mehr war. Durch die Fenster kann ich erspähen, dass die Häuser teilweise noch vollständig eingerichtet sind, ganz im Stil der siebziger Jahre. Allerdings herrscht ein ziemliches Chaos. Die meisten Möbel sind umgestürzt und kaputt. Es wirkt so unrealistisch und weit weg.

Je weiter wir uns von dem Schauplatz des Kampfes entfernen, spüre ich, wie mich Erschöpfung durchflutet. Am liebsten hätte ich mich jetzt zu Hause in mein Bett gelegt und erst einmal bis zum nächsten Morgen geschlafen. Alles, was ich möchte ist, allein sein und. Doch zunächst müssen wir ja noch Giacomo Rede und Antwort stehen. Hoffentlich hört er uns diesmal zu. Tatsächlich dauert es gar nicht lange, bis wir zu dem schiefen, halb eingefallenen Kirchturm gelangen.

Auf den Stufen, die zur Kirche hinauf führen, sitzen die Mitglieder des Geheimbundes. Lediglich Giacomo, mein Vater und Alessandro stehen, während Giacomo wie ein wildes Tier auf und ab läuft. Als er uns sieht, geht er sofort entschlossenen Schrittes auf uns zu. Alessandro und mein Vater folgen ihm. Auch Pietro setzt sich in Bewegung. Er rennt beinahe.

Für einen Moment halte ich angespannt den Atem an. Giacomos Miene scheint undurchsichtiger denn je zu sein. Es ist, als würde ich Roulette spielen. Ich weiß nicht, was ich von ihm erwarten soll. Doch obwohl er zerrissen und noch immer ein bisschen verrückt wirkt, rastet er nicht wieder aus.

Auch Giacomos Frau Susanna steht mit Gaias Hilfe auf. Sie zittert am ganzen Körper und Tränen laufen über ihr Gesicht. Trotzdem läuft auch sie auf Gaia gestützt auf uns zu. Mit einer Armlänge abstand bleiben Giacomo, Alessandro, Pietro, mein Vater, Gaia und Susanna vor uns stehen. Unsicherheit und Unschlüssigkeit liegen wie eine schwere Decke über allen Anwesenden in der Luft. Sie scheint auf unsere Schultern zu drücken und uns die Kraft zum Handeln zu rauben.

Ein paar Sekunden vergehen quälend langsam. Doch dann flüstert Susanna leise, fast ungläubig: „Leonardo?" Dabei sieht sie Lucca mit großen Augen an. Der zuckt unwillkürlich zusammen und nickt dann aber langsam. Dann passiert alles ganz schnell. Susanna läuft die letzten Schritte auf Lucca zu und drückt ihn fest an sich. Ihr tränenverschmiertes Gesicht lehnt sie dabei an seine Schulter.

Im ersten Moment ist Lucca vollkommen perplex und weiß gar nicht, wie er reagieren soll. Stocksteif steht er da und lässt die Umarmung über sich ergehen. Dann jedoch rührt er sich und legt auch seine Arme um Susanna, seine leibliche Mutter. Etwas unbeholfen tätschelt er ihren Rücken. Mir ist die ganze Situation unangenehm, weshalb ich beschämt den Blick abwende. Es kommt mir vor, als wäre ich Zeugin eines sehr privaten Momentes, der mich nichts angeht.

Etwas später bekomme ich mit, wie Susanna von Lucca ablässt und ihn langsam von sich fort schiebt, als würde ihr schlagartig bewusst, dass er zwar ihr Sohn und gleichzeitig dennoch ein fremder Mann ist. Sie wischt die Tränen von ihrem Gesicht und schenkt ihm ein verlegenes Lächeln.

Giacomo räuspert sich und hält den Brief in die Höhe, den Maria Vecca an ihn adressiert hat.

„Nun, ich schätze, meine Mutter hat ein ziemliches Spiel mit uns getrieben", sagt er, „ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, Signor Telloni." Im Gegensatz zu seiner Frau fällt er nicht direkt über Lucca her. Außerdem kann er es nicht lassen, Lucca zu siezen. Scheint so, als könnte er die Wahrheit noch immer nicht vollkommen akzeptieren. „Ich würde vorschlagen, das zu überprüfen. Sie haben sicherlich nichts dagegen, wenn Sie mit uns kommen und wir einen Verwandtschaftstest machen."

Daraufhin nickt Lucca nur. „Für mich ist das auch nicht einfach", erklärt er, „das ist irgendwie schwer zu verdauen. Ich habe das Gefühl, dass sich dadurch alles ändert." Er spricht nicht weiter, doch das muss er auch nicht. Als er heute Morgen aufgewacht ist, war er noch Lucca Telloni, der Anführer der Cinquenti und nun ist er Leonardo Falcini, ein Elementträger.

Giacomo streckt ihm eine Hand entgegen, die Lucca ohne zu zögern ergreift. Genau wie Alessia scheut Giacomo sich allerdings davor, Lucca zu umarmen. Stattdessen sagt er nur: „Herzlich willkommen beim Geheimbund der Elemente."

„Dankeschön", antwortet Lucca trocken. Es ist beinahe ein nüchternes Aufeinandertreffen und nichtso unangenehm wie Susanna Falcinis Gefühlsausbruch. Auch Alessandro und Gaia schütteln Lucca die Hände. Sie machen allerdings ebenfalls keine Anstalten, ihn zu umarmen.

„Bleibst du bei uns?", möchte Alessandro zaghaft wissen.

„Wenn ihr mich dabei haben wollt, schon", antwortet Lucca, „zu den Cinquenti kann ich glaube ich nicht zurück und um ehrlich zu sein, bin ich froh, dass ich Professor Falcini los bin."

„Du... du ganz gern bei uns bleiben", antwortet Alessandro darauf nur, „wir freuen uns sehr."

Für einen Moment weiß wieder niemand so richtig, was er sagen soll. Die Anspannung liegt wie eine Decke über allen Anwesenden.

„Einen weiteren Vorteil hat das Ganze", sagt Kate schließlich mit einem verschmitzten Grinsen, „du bist jünger, als du dachtest. Wollen nicht alle Leute jünger sein? Wobei, wenn ich es mir recht überlege, hat das auch einen Nachteil, weil du dann erst in neun und nicht in vier Monaten Geburtstag hast und dann auch erst später deine Geschenke kriegst."

Jetzt müssen alle Anwesenden lachen. Während ich lache, kommen mir die Tränen. Doch auf einmal fühle ich mich unglaublich erleichtert. Meine kleine Schwester schafft es doch immer, die Stituation zu lockern. Egal wie schwer und erdrückend sie scheint.

Pietro läuft auf Lucca zu und legt einen Arm um seine Schulter. „Ich meinerseits bin ebenfalls froh, dass du da bist."

Auf einmal reden alle durcheinander. Sie wollen die verschiedenen Versionen der Geschichte hören. Lucca erzählt, wie er und ich uns heimlich getroffen haben, nachdem er festgestellt hatte, dass er seinen Ohrring ausziehen konnte und wie wir nach Leonardo gesucht haben. Dabei verrät er allerdings weder, dass Ernesto mein Vater ist, noch dass da etwas zwischen uns lief. Dafür bin ich ihm unglaublich dankbar. Auch Pietro berichtet, wie er mir gestern gefolgt ist und dass die Cinquenti uns in Siena gejagt haben.

Alle bilden eine große Gruppe. Der Einzige, der etwas abseits steht, ist mein Vater. Er wirkt beinahe etwas verloren. Genau wie ich scheint er nicht das Bedürfnis haben, seine Version der Geschichte preiszugeben. Ich sehe zu Kate hinüber, die allen Berichten erstaunt lauscht. Doch das Familiendrama der Falcinis ist nicht das Einzige hier. Vorsichtig berühre ich meine Schwester am Arm. Neugierig dreht sie sich zu mir um.

Ich hole tief Luft. Nun ist der Moment der Wahrheit gekommen. Ich kann ihr nicht länger verheimlichen, dass ich unseren Vater gefunden habe. „Komm mal kurz mit. Ich muss dir jemanden vorstellen."

Die ElementeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt