Nach unserem Abenteuer bei den Ruinen brauche ich ein paar Tage, bis ich wieder unbeschwert zum Alltag übergehen kann. Ständig muss ich daran denken, dass Leonardo noch am Leben ist. Ich frage mich, wo er sich gerade wohl aufhält, ob er von den Elementen weiß und was er mit Antonio Toscani zu tun hat. Wenn ich nicht an Leonardo denke, wandern meine Gedanken zu Lucca. Ein noch ungünstigeres Thema. Es macht mich ganz kribbelig. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir etwas Wichtiges fehlt. Es ist, als würde ich ein Puzzle anschauen, das beinahe fertig ist. Nur ein paar Teile brauche ich noch, um das Bild zu vervollständigen, doch ich kann sie nicht finden und ohne sie ist es unmöglich, das Motiv zu erkennen.
Ein Glück, dass ich den Lernstoff lediglich wiederholen muss. Etwas Neues hätte ich mir in meinem Zustand unmöglich merken können. Die Tage bis zu meinen Prüfungen ziehen regelrecht an mir vorbei. Zweimal wiederhole ich den Stoff auf meinen Lernzetteln, den ich bereits so gut auswendig kann, dass er mich langweilt. Trotzdem herrscht in meinen Knochen eine Unruhe, die sich nicht vertreiben lässt. Ständig tigere ich in meinem Zimmer auf und ab wie ein eingesperrtes Tier oder schleiche die Treppen rauf und runter. Dabei rede ich mit mir selbst und sage mir das Gelernte vor. Einmal nervt das Kate so sehr, dass sie ihren Kopf aus ihrem Zimmer streckt und mich anfährt, ich solle doch gefälligst mal stillhalten, man würde mich im ganzen Haus hören.
Obwohl ich es nicht erwarte, schlafe ich an dem Abend vor meiner ersten Prüfung relativ schnell ein. In den vorherigen Tagen habe ich mich oft stundenlang in den Schlaf gequält, aber jetzt gleite ich fast friedlich in einen Dämmerschlaf über, sobald ich das Licht ausgeknipst habe.
Am nächsten Morgen bin ich schon beim ersten Weckerklingeln hellwach und setze mich kerzengerade im Bett auf. Ich scheine alles viel intensiver wahrzunehmen, meine vom Schlaf verknäuelte Decke, die Bücher auf meinem Schreibtisch, das kräftige Licht des Frühlingstages, das zwischen den Jalousien durchscheint. Gähnend, strecke ich meine Arme in die Höhe, stehe auf, laufe zum Fenster und öffne es. Eine frische Brise weht mir entgegen. Die Luft um mich herum ist zwar noch kühl, aber sie kündigt trotzdem einen Tag an, der verspricht, ziemlich warm zu werden.
Ich bekomme das Auto von meinen Großeltern, mit dem ich zur Schule fahren darf. Beim Autofahren selbst bin ich ebenfalls erstaunlich ruhig und mein Kopf ist wie leergepustet. Hoffentlich kann ich mich noch an den Unterrichtsstoff erinnern, wenn ich dann vor meiner Prüfung sitze.
Es funktionieren nur zwei Radiosender, aus denen italienische Schlagermusik dudelt. Normalerweise kann ich diese Art von Musik gar nicht abhabe, aber an diesem Morgen drehe ich das Radio voll auf. Der Gesang erreicht meine Ohren und strömt von dort aus pulsierend durch meinen Körper. Er scheint mir neue Kraft zu verleihen für das, was vor mir liegt. Kate sitzt auf dem Beifahrersitz. Das Fenster hat sie leicht heruntergekurbelt und ab und zu streckt sie ihre Finger in den Fahrtwind. Dabei summt sie leise zur Musik mit.
Ich merke, wie sie ihren Kopf trotzdem immer wieder besorgt zu mir umdreht und mich mit hochgezogenen Augenbrauen vorsichtig von der Seite mustert. Sie scheint sich Sorgen um mich zu machen. Offenbar befürchtet sie, ich könnte so kurz vor der Prüfung durchdrehen.
„Nini, ist alles in Ordnung?", fragt sie, als wir auf dem Schulparkplatz halten, ich den Schlüssel aus dem Zündschloss gezogen habe und sich plötzlich eine gespenstische Stille über uns legt.
Ich schlucke einmal kräftig, doch dann nicke ich. Noch immer erfüllt mich eine unheimliche Ruhe, die so gar nicht zu dem passen will, was vor mir liegt. „Das Ding kriege ich schon geschaukelt", meine ich leichthin.
„Dann ist ja alles gut", meint Kate und lächelt mich an. Schwungvoll lehnt sie sich zu mir herüber, um mich zu umarmen. „Ich wünsche dir ganz viel Erfolg und Glück. Das kann man ja bekanntlich auch gut gebrauchen." Sie lächelt mich schräg an, dann drückt sie ein kleines Päckchen in meine Hand. Als ich nach unten sehe, lugt mir eine kleine Schachtel mit Traubenzuckerbärchen entgegen. Darauf kleben ein vierblättriges Kleeblatt, das sie aus Pappe gebastelt hat, sowie ein grauer Wolf. Der Wolf ist mit den Worten „In bocca al lupo!" beschrieben. Wörtlich übersetzt würde es: „im Maul des Wolfes" lauten, aber auf Italienisch bedeutet dieser Spruch in etwa: „Viel Glück!"
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Die Elemente
FantasíaKate und ich wechseln einen erstaunten Blick. Das ist es also, Marias Geheimnis. Der Grund, aus dem sie uns ihr Tagebuch vermacht hat. "Unglaublich", flüstert meine Schwester. Sie scheint genauso erschüttert zu sein wie ich. Endlich haben wir die fe...