4. Die Versammlung (1)

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Hastig sammele ich alle Schals auf, bevor meine Mutter das Zimmer erneut betritt. Mit meiner Vermutung, sie sähe nach dem Schminken aus wie ein Clown, lag ich allerdings falsch. Tatsächlich sieht sie gar nicht mal schlecht aus. Ihre Augen sind dezent geschminkt und die kurzen Haare hat sie elegant zurück gekämmt. Alles, was an ihrem Gesicht stört, sind eigentlich nur die Lippen, die in einem anderen Rot glänzen als ihr Kleid.

„Ich bin spät dran", stöhnt sie, fährt sich mit der Hand nervös durchs Haar und bringt es damit dann doch wieder durcheinander. „Ich werde zu deinen Großeltern laufen müssen und draußen schneit es."

„In der Garderobe im Flur steht ein Regenschirm", teile ich ihr mit. Meine Mutter denkt normalerweise nicht an solche essentiellen Kleinigkeiten.

„Ähm, ich glaube, ich nehme den hier", meint sie, ohne sich bei mir für die nützliche Information zu bedanken und fischt einen seidenen, sandgelben Schal aus dem Haufen. Diese Farbe passt so gar nicht zu ihrem Kleid. Das kann ich nicht länger mit ansehen, ich muss eingreifen.

„Mum, nicht den", stöhne ich und überrede sie letztendlich zu einem beigefarbenen, der im Licht leicht glitzert. Der ist zwar auch nicht wunderschön, aber immerhin besser als der Gelbe. Allein wenn ich diesen grellen Stofffetzen ansehe, bekomme ich eine Gänsehaut.

Lächelnd legt Mum sich den Schal um die Schultern, dann wandert ihr Blick zu dem Radiowecker auf ihrem Nachttisch hinüber. Es wundert mich schon fast, dass er richtig gestellt ist. So etwas wie Sommer- und Winterzeit interessiert sie nicht und fünfzehn Minuten Toleranz sind immer drin. Manchmal nennt sie es die akademische Viertelstunde oder sie schiebt es auf ihre südländischen Gene, dass sie einfach nicht pünktlich sein kann.

„Ich muss los", stellt sie fest, wirkt aber nicht hektisch, sondern für einen Moment richtig glücklich. Unwillkürlich frage ich mich, welche Oper sie sich wohl ansehen wird. Und wo. Das muss ja etwas ganz Besonderes sein, wenn sie sich dafür so herausputzt.

Aber ich schätze, dass mehr Nachfragen nur auf Widerstand stoßen werden. Es geht mich ja schließlich nichts an, wie sie ihren Abend verbringt, obwohl ich es schon gerne wissen würde.

„Viel Spaß, Mum", rufe ich ihr hinterher, als sie ohne ein weiteres Wort zu verlieren aus dem Zimmer stürmt. Von der Treppe flötet sie mir noch ein fröhliches „Dankeschön" zu, dann ist sie auch schon an der Haustür. Für einen Moment überlege ich mir, die Kiste mit den Fotos unter dem Bett hervorzuziehen und die Alben durchzublättern, doch ich lasse sie dort, wo sie sind. Natürlich bin ich neugierig, aber es wäre unhöflich, Pietro zu lange allein zu lassen.

Seltsamerweise macht es mir nichts aus, Fotos von meinem Vater zu sehen. Vielmehr stört es mich, dass unsere Mutter uns belogen hat. Warum hat sie die Bilder vor Kate und mir versteckt? Was können Fotos schon großartig anrichten?

Mit diesem Gedanken im Kopf gehe ich wieder zu Pietro. Mein bester Freund brütet noch immer mit hochrotem Kopf und zerzaustem Haar über seinen Vokabeln. Auf seiner Stirn bilden sich steile Falten, so konzentriert wirkt er. Wie er aussieht, könnte man meinen, er habe gerade einen Langstreckenlauf hinter sich. Dabei geht es lediglich um einen simplen Englischaufsatz. Als er mich sieht, blickt er hoch und lächelt müde. Langsam fischt er sein Handy aus der Hosentasche. Seine Augen huschen über den Bildschirm. Der müde Ausdruck auf seinem Gesicht verwandelt sich in Erleichterung.

„Wir haben schon sieben Uhr", stellt er fest, „Zeit, aufzuhören."

Normalerweise hätte ich an dieser Stelle heftig protestiert. Wir können nicht schon um sieben Uhr abends aufhören zu lernen. Die Abschlussprüfungen stehen schließlich bald an und da kann es nur allzu gut vorkommen, dass bis spät in die Nacht gepaukt werden muss. Aber die versteckten Fotoalben haben etwas in mir wachgerüttelt, das ich noch nicht ganz begreifen kann. Aus genau diesem Grund habe ich keine Lust, mich heute weiter mit dem Lernstoff zu beschäftigen.

„Von mir aus", sage ich und zucke mit den Schultern. Eine steile Falte des Erstaunens bildet sich auf Pietros Stirn und er gibt ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen Überraschung und Entsetzen liegt. „Wie bitte? Du willst aufhören zu lernen?", fragt er und klingt dabei schon fast belustigt, „ich dachte, wir müssen uns auf die Universität vorbereiten und wehe, wir schneiden in den Abschlussprüfungen nicht gut genug ab, blablabla."

„Hör auf!", rufe ich und werfe spielerisch mit einem auf dem Boden liegenden Heft nach ihm. Gerade noch rechtzeitig duckt er sich und weicht dem Heft aus.

„Nicht getroffen", sagt er triumphierend.

„So ein Pech aber auch", meine ich und lasse mich mit dem Hintern zuerst aufs Bett plumpsen. Ich strecke die Hände über meinem Kopf aus und dehne meine Muskeln. Das tut gut. In letzter Zeit komme ich mir viel zu oft verspannt und zusammengesunken vor. Vielleicht fehlt mir der Ausdauersport, den ich sonst täglich betreibe. Das Schwimmtraining zweimal die Woche ist einfach nicht genug.

„Draußen schneit es", bemerke ich, „ich glaube nicht, dass du heute Abend noch in die Weinberge rausfahren solltest." Pietros Eltern besitzen ein Weingut in der Nähe von Castiglione della Pescaia, dem Ort, in dem ich wohne. Sie leben in einer Villa auf dem Gelände, das man nur über enge Serpentinenstraßen und Feldwege erreicht. Die dicken weißen Flocken vor dem Fenster haben sich mittlerweile ausgedünnt. Nur ab und zu segelt ein niedlicher Eiskristall auf die Straßen hinab. Eigentlich könnte man bei diesem Wetter trotzdem noch mit dem Auto fahren, vor allem da der Schnee hier an der Küste meistens nicht über Nacht liegen bleibt. Aber Pietro und ich benutzten das Eis und den Schnee im Winter oft als einen Vorwand, um beieinander zu übernachten.

Während es meiner Mutter ziemlich egal ist, mit wem und wo ich die Nacht verbringe, sehen es Pietros Eltern nicht so gerne, wenn wir beieinander übernachten. Ich finde das absolut lächerlich. Die Beziehung zwischen Pietro und mir ist rein platonisch. Was soll denn da schon passieren?

Es gibt viele Leute in unserem Umfeld, die uns vermutlich gerne – oder in dem Fall von den dutzenden Mädels, die Pietro geradezu anschmachten eher nicht so gerne – als ein Paar sehen würden. Aber Pietro und ich wissen, dass das niemals geschehen wird. Dafür kennen wir einander viel zu lange.

„Ja, ich denke auch. Nicht, dass ich noch einen Unfall baue", meint Pietro, „ich schreibe nur schnell meiner Mutter."

„Aber mach dann das Handy aus, nicht dass deine Eltern dich anrufen und dass es dann wieder Diskussionen gibt", sage ich.

„Ja klar", entgegnet er nur.

„Okay, Folgendes: Wir räumen auf, dann kochen wir und dann gibt's eine Runde Game of Thrones", schlage ich vor.

„Lieber eine Sitcom. Mir steht's heute nach was Lustigem."

„Von mir aus", stimme ich zu. Hauptsache, ich kann irgendetwas im Fernsehen schauen und muss nicht mehr aktiv nachdenken. Nicht über die Prüfungen, nicht über Lucca, die Cinquenti oder die Elemente und auch nicht über meinen Vater. Manchmal ist es eben besser, vor seinen Gefühlen wegzulaufen. Ich mache mir nichts vor, ich weiß, dass das keine dauerhafte Lösung ist, aber für den Moment funktioniert es prima.

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