Für einen Moment vergesse ich alle Gedanken und lasse sie hinter mir. Ich handle nur, ziehe ihn näher zu mir und höre gar nicht erst damit auf, ihn zu küssen. Leider hält das nur für einen Moment an. Schon bald schiebe ich ihn von mir weg und sehe ihm in die Augen. Dass er mich am liebsten weiter küssen würde, ist unverkennbar. Auf seiner Miene spiegelt sich nicht nur dieses sonderbare Leuchten, sondern auch Verlangen wieder. Trotzdem kann ich das, was gerade passiert, nicht einfach so stehen lassen.
„Was bedeutet das jetzt?"
„Das fragst du mich?", entgegnet Lucca, „du hast mich doch geküsst!"
Seine Worte sind so entwaffnend, dass ich im ersten Moment gar nicht weiß, was ich darauf erwidern soll. Beschämt sehe ich auf meine Hände hinab und merke, wie meine Wangen vor Scham aufflammen.
„Aber du hast das schließlich erwidert", nuschele ich. Im ersten Moment bin ich davon überzeugt, so leise gesprochen zu haben, dass Lucca mich nicht gehört hat, doch dann holt er tief Luft. „Ich mag dich, Brionny", gesteht er, „und das ziemlich gern und auch schon seit einer Weile."
„Aber eigentlich stehen wir ja auf verschiedenen Seiten", stelle ich klar. Warum ich das ausgerechnet jetzt sage, weiß ich nicht. Vielleicht brauche ich nur einen Einwand, weil ich für einen kurzen Moment so glücklich war, dass es mir Angst macht.
„Hat es sich für dich dieses Wochenende so angefühlt, als stünden wir auf unterschiedlichen Seiten?", fragt er. Ich schlucke. Nein, das hat es nicht.
„Meine Gefühle für dich kann ich nicht ändern", fährt er fort, „nicht mal das fünfte Element oder die Tatsache, dass wir eigentlich auf verschiedenen Seiten stehen sollten, konnte das ändern. Ich habe versucht, mich gegen diese Gefühle zu wehren. Aber ich kann es nicht. Und ich will es nicht mehr." Er senkt den Blick. Dadurch wirkt er so verletzlich und klein. Ich fühle mich, als hätte ich ihn vollkommen in der Hand. Dieses Gefühl gefällt mir nicht. Vorsichtig lege ich eine Hand unter sein Kinn und hebe seinen Kopf, sodass er mich wieder ansehen muss. „Mir geht es ja ähnlich", gestehe ich.
Er lächelt. Es ist ein schwaches Lächeln, aber es kann trotzdem nicht verbergen, wie sehr er sich über meine Worte freut. „Das trifft sich ja gut", meint er. Bevor ich mich versehe, küssen wir einander wieder. Es ist ein ganz anderes Gefühl als bei all den Jungs, die ich bisher geküsst habe. Es fühlt sich ehrlicher an und sicherer. So, als sei ich endlich irgendwo angekommen, ohne zu wissen, dass ich auf dem Weg dorthin war.
Ich ertappe mich, wie ich denke: Warum denn eigentlich auch nicht? Als wir in Siena in den Zug nach Grosseto umsteigen, fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren. Während wir das Gleis wechseln, hält Lucca die ganze Zeit meine Hand.
Im Zug nach Grosseto setzen wir uns wieder auf Plätze nebeneinander. Allerdings haben wir nun kein Abteil mehr für uns allein. Trotzdem nimmt Lucca mich in den Arm, sodass ich gegen seine Brust gelehnt sitze. Erstreichelt sanft über meine Elle, weiter bis zu meinen Handflächen. Diese Berührungen fühlen sich so zart und gleichzeitig doch so intensiv an, dass ich das Gefühl habe, zu explodieren.
Die ganze Zugfahrt über schweigen wir und genießen die gemeinsame Stille. In meiner Brust brennt ein Feuer, das ich unmöglich wieder eindämmen kann, jetzt da es einmal entfacht ist. Draußen wird es bereits dunkel und die Nacht bricht über uns herein. Ich bin jedoch hellwach. „Also haben wir jetzt unsere eigene Seite?", flüstere ich Lucca irgendwann zu.
„Ja, wenn du es so willst", entgegnet er, „vielleicht sind wir jetzt einfach Team Leonardo." Als er das sagt, muss ich lachen. Falls wir Leonardo jemals finden sollten, darf er nicht davon erfahren, dass Lucca uns so betitelt hat.
Viel zu schnell erreichen wir den Bahnhof von Grosseto. „Ich will nicht, dass du gehst", spreche ich einfach aus, was ich in diesem Moment denke. Gleichzeitig macht mir dieses Gefühl auch Angst. In welche Abhängigkeit manövriere ich mich da hinein?
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Die Elemente
FantasíaKate und ich wechseln einen erstaunten Blick. Das ist es also, Marias Geheimnis. Der Grund, aus dem sie uns ihr Tagebuch vermacht hat. "Unglaublich", flüstert meine Schwester. Sie scheint genauso erschüttert zu sein wie ich. Endlich haben wir die fe...