44. Drei

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Mit unerbittlicher, beinahe rücksichtsloser, erdrückender Hitze stachen die Sonnenstrahlen vom Himmel hinab auf die Straßen der ruhigen, verlassenen Kleinstadt. Die einzigen Lebewesen, die an diesem Ort wohnten, waren streunernde Katzen, Straßenhunde oder Vögel, die sich unter den Dachgiebeln der verlassenen Häusern eingenistet hatten. Die Menschen waren vor vielen Jahren aus der Stadt vertrieben worden und bisher nicht zurückgekehrt. Manch einer war damals fast schon überstürzt aus den einsturzgefährdeten Häusern geflohen und hatte dabei sein ganzes Hab und Gut zurück gelassen. Nicht umsonst nannte man Apice manchmal das Museum der siebziger Jahre.

Auch die Autos, die die Menschen vor ihren Häusern oder in halb offenen Garagen stehen gelassen hatten, waren Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit. Mittlerweile hatte die Natur sich hier eingenistet. Efeu rankte um platte Reifen und verrostete Felgen oder wuchs aus zergeschlagenen Fenstern an den Wänden hinunter. Trotzdem wirkte der Anblick friedlich und nicht so, als sei der Leere und Stille, die herrschten, eine zerstörerische Wucht voraus gegangen.

An jenem warmen Nachmittag Anfang des Sommers waren jedoch erstaunlich viele Menschen auf den Straßen unterwegs und brachten ein bisschen Leben in die ausgestorbene Stadt. Beinahe schon unbekümmert liefen sie über die mit Unkraut überwucherten Pflastersteine, vorbei an halb verfallenen Gebäuden. Lediglich die Fahrradhelme, die manch einer in dieser Reisegruppe trug, verrieten, dass sie sich über möglicherweise herabstürzende Bauteile Gedanken gemacht hatten.

Angeführt wurde diese Reisegruppe von einem großen, schlaksigen Mann. Auf seinem Hinterkopf zeichnete sich eine runde, kahle Stelle ab. Er trug eine rahmenlose Brille und steckte in einer feinen Hose mit blütenweißem Hemd.

Es war kaum zwei Monate her, dass er diesen Ort zuletzt besucht hatte und trotzdem kam es ihm so vor, als hätte die Natur in der Zwischenzeit noch mehr von der verlassenen Stadt erobert. Er sah über die Schulter zurück zu seinem Sohn und seiner Tochter, die direkt hinter ihm liefen. Beide waren in ein Gespräch vertieft und schienen angeregt miteinander zu diskutieren. Worüber sie sprachen, interessierte den Mann herzlich wenig.

Die Kinder waren groß geworden, mittlerweile selbst schon erwachsen. Dadurch fühlten sich die beiden so weit entfernt an wie noch nie zuvor. Wenn er ehrlich war, dann kannte er die beiden eigentlich gar nicht richtig. Manchmal kamen sie ihm fremd vor und jede ihrer Regungen so eigenartig. In solchen Momenten fühlte es sich nicht an, als hätten sie etwas mit ihm zu tun. Kaum zu glauben, dass sie einmal seinem Samen entsprungen waren.

Seine Tochter war zu einer anmutigen, eleganten Frau geworden, die nur so vor Stärke strotzte. Woher sie die Kraft nahm, mit der sie ihre Dinge erledigte, wusste er nicht. In sich selbst konnte er nichts Vergleichbares finden. Keine Sache der Welt schien seine Tochter zurückwerfen zu können. Sie ging stets mutig und unbeirrt voran. Er hatte keinen Zweifel daran, dass sie eines Tages seine Rolle übernehmen und den Geheimbund der Elemente leiten würde. Vielleicht sogar besser, als er es je getan hatte. Darauf war er unglaublich stolz und gleichzeitig fragte er sich, wie er so einen Menschen hatte großziehen können.

Dann war da noch sein Sohn. Der junge Mann wirkte stets in sich gekehrt und sein Vater hatte viel zu oft keine Ahnung, was eigentlich in ihm vorging. Manchmal machte er sich Sorgen um seinen Sohn, weil er noch nie ein Mädchen mit nach Hause gebracht hatte. In diesen Momenten fragte er sich dann immer, ob das denn normal war für einen Mitte Zwanzigjährigen oder ob er durch seine Erziehung in irgendeiner Art und Weise Schuld daran trug, dass sein Sohn allein war. War es überhaupt schlimm allein zu sein oder am Ende nicht vielleicht sogar besser? Der Mann wusste es nicht, aber diese Frage konnte er für seinen Sohn auch nicht beantworten.

Sohn und Tochter schienen zu bemerken, dass er sie ansah, denn sein Sohn wandte sich nun ihm zu. „Vater, was denkst du? Sollten wir noch einmal versuchen, Brionna zu kontaktieren?", fragte er. Vater. So nannte er ihn immer. So lange sich er sich erinnern konnte, hatte sein Sohn nicht ein einziges Mal Papa zu ihm gesagt, sondern ihn lediglich mit Vater angesprochen. Welch ein Kind tat so etwas?

„Ich denke nicht, dass sie noch kommt", antwortete er. Wenn er ehrlichzu sich selbst war, war es ihm auch egal, was die Elementträgerin tat. So sollte es nicht sein, das wusste er, aber er konnte sich einfach nicht helfen. Was die Elementträger anging, so ertappte er sich immer wieder dabei, wie er Dinge, die erledigt werden mussten, auf die lange Bank schob. Am liebsten hätte er sich vollkommen von dem Geheimbund, den er gegründet hatte, zurückgezogen, aber die Zeit dafür war noch nicht gekommen. Vor allem jetzt, da zwei neue Elementträgerinnen auf der Bildfläche erschienen waren.

Die beiden Mädchen taten ihm leid. Auch sie und ihre Familie hatten einiges durchmachen müssen, nachdem Ernesto einfach so verschwunden war. Er hatte selten junge Menschen gesehen, die zur gleichen Zeit so unabhängig, selbstständig und doch so naiv und kindlich waren. Manchmal fragte er sich, ob das nicht der Grund war, warum sich bei einer von ihnen bis jetzt noch nicht die Fähigkeit zur Kontrolle über ein Element gezeigt hatte.

„Ich denke schon, dass wir sie noch einmal anrufen sollten. Pietro ist schließlich auch nicht zu erreichen und das ist sehr unüblich für ihn", warf nun die Frau des Mannes ein. Sie lief direkt neben seiner Tochter. Wie immer lag ein trauriger, fast matter Schleier über ihren Augen, die in der Jugend einst so gestrahlt hatten.

„Bei den Sachen, die sich Pietro in letzter Zeit geleistet hat, bin ich mir nicht sicher, was für ihn überhaupt noch üblich ist und was nicht", gab der Mann zu bedenken. Dann betrachtete er das Gesicht seiner Frau lange von der Seite. Doch so sehr er sich auch anstrengte, den Menschen, in den er sich damals, vor dreißig Jahren verliebt hatte, konnte er nicht einmal mit Mühe wiedererkennen. Dabei wollte er es so sehr und er wünschte, er könnte sich dazu zwingen. Im Laufe der Zeit waren die hitzigen, jugendlichen Gefühle zwischen ihnen abgekühlt und gealtert, bis sie schließlich vollständig verschwunden waren. Das, was sie noch an ihrer Ehe festhalten ließ, war lediglich ein Gefühl aus Verpflichtung und die Angst davor, plötzlich allein dazustehen.

Der Mann seufzte. Da durchzuckte ein Beben den Boden. Es war heftig und kam so unerwartet, dass es den Mann beinahe von den Füßen geworfen hätte. Es kostete ihn alle Kraft und sein ganzes Gleichgewicht, um stehen zu bleiben. Hinter sich hörte er einen Aufschrei und sah, dass seine Frau den Halt verloren hatte und gestürzt war. Seine Tochter war sofort zu ihr geeilt, um zu sehen, ob es ihr gut ging.

Der Mann spürte seinen harten, schnellen Herzschlag in der Brust. „Philippe! Versuch, es aufzuhalten!", wies er seinen Sohn an.

„Das würde ich ja gerne", gab dieser mit zusammengebissenen Zähnen zurück. Genau wie der Mann stand er noch auf seinen Beinen, aber er war trotzdem blass im Gesicht und auf seiner Stirn zeichneten sich Schweißperlen ab. „Aber das hier ist kein Erdbeben", rief er, „es sind die Cinquenti. Sie greifen uns an."

Die ElementeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt