38. Refugium (2)

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Als ich aufwache, fühle ich mich glücklich und voller Energie, ohne zu wissen warum. Dann fällt mein Blick auf Luccas schlafendes Gesicht neben mir. Er sieht süß aus im Schlaf, fast schon friedlich. Ich richte mich auf. Obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen ist, ist es bereits hell. Die grauen Betonwände des noch nicht fertig gestellten Hauses ragen hinter uns in den Himmel und schirmen uns komplett von der Außenwelt ab.

Dann blicke ich zum Meer hinunter. Lucca hatte Recht. Bei Tageslicht ist dieser Anblick einfach unglaublich. Unter uns erstrecken sich Bäume, Büsche und Klippen, die reinste Wildnis. Und dann liegt da das Meer. Im ersten Licht des Tages wirkt es noch gar nicht blau, sondern eher schwarz-grau. Trotzdem erstreckt es sich, bis es mit dem blassen Himmel verschmilzt. Kein Wunder, dass Lucca hier gut nachdenken und allein sein kann.

Umso erstaunlicher, dass Lucca mir diesen Ort überhaupt gezeigt hat. Ich fühle mich, als wäre ich tief in sein Innerstes eingedrungen, in einen privaten Platz, der nur ihm gehört. Da erst wird mir bewusst, dass ich vollkommen unbekleidet bin. Schnell sammele ich meine Kleidung ein und ziehe sie über

In diesem Moment wird Lucca wach. Er zuckt zusammen, so als hätte ich ihn aus dem Tiefschlaf gerissen. Zunächst sieht er sich verwirrt um, doch dann erkennt er mich. „Guten Morgen", nuschelt er, „gehst du schon?" Ich nicke. Noch immer verspüre ich eine starke Hingebung zu ihm, aber kaum dass es hell ist, ist der Zauber der Nacht verschwunden. Stattdessen kriecht ein schlechtes Gewissen in mir hoch.

Lucca trägt zwar nicht den Stecker des fünften Elements, aber dennoch gehört er zu den Cinquenti und ich gehöre, ob ich es nun möchte oder nicht, zu den Elementträgern. Der Gedanke eines tragischen Liebespaares gefällt mir nicht. Auch wenn wir das „Team Leonardo" sind, komme ich mir vor, als hätte ich etwas Falsches getan. Aber wie kann etwas falsch sein, dass sich so gut und richtig anfühlt?

„Okay warte. Ich fahre dich nach Hause." Sofort ist Lucca auf den Beinen und zieht sich ebenfalls seine Kleidung über.

„Alles gut", sage ich und wende mich peinlich berührt von ihm ab, „den Weg finde ich schon alleine."

„Aber wenn ich dich fahre, geht es schneller." Lucca bleibt beharrlich. Ich kann ihm währenddessen kaum in die Augen sehen. Ein Teil von mir möchte Lucca am liebsten wieder die Kleidung vom Leib reißen und sich mit ihm unter die Decken kuscheln, aber ein anderer Teil von mir möchte nach Hause und allein sein.

Scheinbar versteht Lucca, was in mir vorgeht, denn er versucht kein einziges Mal mich zu berühren. Stattdessen faltet er die Decke auf der Matratze zusammen und nickt mir zu.

„Also dann bringe ich dich mal nach Hause", sagt er.

„Nur bis zum Ortseingang." Niemand soll wissen, dass ich dieses Wochenende mit Lucca unterwegs war. Ich wüsste nicht einmal, wie ich erklären sollte, warum ich mich ausgerechnet auf ihn eingelassen habe. Da ist es besser, ich behalte das Ganze für mich.

Nebeneinander laufen wir zu Luccas Motorrad. Bevor wir jedoch aufsteigen und er die Maschine startet, legt er die Hände auf meine Schultern und sieht mich aus seinen dunklen Augen ernst an. „Sehen wir uns wieder?", fragt er.

„Ja", antworte ich, ohne groß darüber nachzudenken.

„Und wann?"

„Das kann ich dir noch nicht sagen. Aber es wird sich sicher was ergeben." Nun stelle ich mich doch auf die Zehenspitzen und küsse ihn. Das scheint ihm zu gefallen, denn er wirkt nun um einiges zuversichtlicher. Hinter ihm rutsche ich auf das Motorrad. Er startet den Motor und manövriert seine Maschine über den Schotterweg auf die Landstraße. Da es so früh am Tag ist, sind noch nicht sonderlich viele Autos unterwegs. Trotzdem habe ich Angst, dass wir von jemandem entdeckt werden können, der uns beide kennt.

Während der Fahrt nach Castiglione bin ich angespannt und verkrampft. Trotzdem stelle ich fest, dass ich mich langsam daran gewöhne, hinter Lucca auf einem Motorrad zu sitzen. Um ehrlich zu sein, ist das nicht mal so übel.

Vor dem Ortsschild von Castiglione setzt mich Lucca ab. Dabei schaltet er nicht einmal den Motor aus. Zum Abschied nickt er mir lediglich einmal kurz zu. Dann fährt er auch schon weiter. Ich bleibe noch eine Weile stehen und sehe ihm hinterher. Im schwachen Morgenlicht wird er immer kleiner, bis er sich schließlich mit seinem Motorrad in eine Kurve legt und aus meinem Blickfeld verschwindet. Auf irgendeine Art und Weise vermisse ich ihn schon jetzt. Ein Teil von mir hätte gerne noch mehr Zeit mit ihm verbracht. Andererseits ist es auch gut, dass ich jetzt erst mal für mich sein kann.

Da wird mir auf einmal bewusst, wie sehr ich mich an diesem Wochenende verändert habe. Es kommt mir vor, als sei ich mit allem, was ich nun weiß und was ich getan habe, ein ganz anderer Mensch als vor 48 Stunden. Kaum vorstellbar, dass ich erst vor zwei Tagen nach Mailand aufgebrochen bin.

Schließlich seufze ich, drehe mich um und gehe nach Hause. Auf der Straße begegnet mir der Sohn unserer Nachbarn, ein junger Mann, vielleicht Anfang zwanzig, der gerade auf dem Weg zur Arbeit in einem der Hotels am Strand ist. Er nickt mir zu und grüßt mich freundlich. Ich erwidere seinen Gruß, gehe dann jedoch schnell weiter, ohne stehen zu bleiben und mit ihm zu plaudern. Mein Herz schlägt schnell, als hätte er mich bei etwas Verbotenem ertappt. Als ich mich noch einmal zu ihm umdrehe, wirkt er jedoch ziemlich unbeeindruckt und ist mit seinem Handy beschäftigt.

So leise es geht, schließe ich die Haustür auf. Zum Glück bemerken weder Kate noch Mum, dass ich wieder nach Hause komme. Kate ist vermutlich schon auf dem Weg in die Schule und Mum schläft wahrscheinlich noch. In diesem Moment bin ich unglaublich froh, dass sie nicht ist wie andere Mütter, die ständig wissen möchten, wo ich mich mit wem herumtreibe.

In meinem Zimmer angekommen, löse ich die lose Diele aus meinem Boden und verstaue die Tasche meines Vaters in dem geheimen Fach bei all den anderen Dokumenten, die ich in den Ruinen von Pergula gefunden habe. Sie passt gerade so hinein. Ich wechsle meine Kleidung und setze mich dann an den Schreibtisch, um mir wenigstens noch ein bisschen was von dem Stoff meiner Abschlussprüfungen anzusehen.

Nach einem kurzen Augenblick, in dem ich meinen Lernstoff wiederholt habe, überkommt mich sogar eine gewisse Erleichterung. Mit dem, was ich am Wochenende erfahren habe, kann ich endlich weiter machen. Ich trete nicht mehr länger auf der Stelle, sondern weiß, was als nächstes zu tun ist. Doch erst einmal steht die Schule im Vordergrund. Für den Augenblick ist das wichtiger als die Elemente. Und vielleicht kann ich mich durch das Lernen ja von dem Gedanken ablenken, dass ich eigentlich in Schwierigkeiten stecke.

Die ElementeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt