Arm in Arm mit Kate gehe ich auf meinen Vater zu. Der schaut mich fragend an, doch ich sage nichts und deute ihm lediglich mit einer Kopfbewegung an, uns zu folgen. Wir nehmen auf den Stufen, die zur Kirche hinaufführen, Platz, während sich unser Vater eine Stufe tiefer setzt. Dabei lässt er die Schultern hängen und die Trauer, die ihn wie ein persönlicher Geruch umgibt, schlägt auf einmal auf mich über. Es ist, als würde es mich unglaublich viel Kraft kosten, aufrecht sitzen zu bleiben. Kaum merklich sinkt mein Oberkörper nach vorn und gibt der Schwerkraft nach.
Mit unverholenem Interesse mustert unser Vater Kate. Auch sie sieht ihn an, doch im Gegensatz zu mir kennt sie Mums Fotoalben nicht und hat keine Ahnung, wer da vor ihr sitzt. Fragend zieht sie die Augenbrauen hoch und sieht zu mir hinüber.
„Lass mich das erklären", bitte ich unseren Vater, als er vorsichtig den Mund öffnet. Daraufhin nickt er, legt die Lippen wieder aufeinander und faltet geduldig die Hände in seinem Schoß zusammen. Diesmal erzähle ich Kate die ganze Wahrheit. Ich beginne damit, dass ich die Fotoalben von Mum entdeckt und dann unserem Vater in dem Biologiebuch, das ich mir auf Marias Hinweis bestellte, wiedererkannt habe. Schließlich gestehe ich ihr, dass er es war, den ich in Mailand getroffen habe.
Im ersten Moment weiten sich ihre Augen ungläubig, so als wollte sie die Tatsachen leugnen, genau wie Giacomo als es um Leonardo ging. Ein bisschen wirkt sie sogar erbost und wütend.
„Das... das glaube ich alles nicht", stammelt sie, „du hast mich angelogen!"
Heftig wendet sie sich ab und sieht zu den Falcinis hinüber. Sie sagt kein Wort mehr, was ziemlich untypisch für sie ist. An ihrer Haltung kann ich erkennen, dass ihre elend zumute ist. Ich ertrage es nicht, sie so zu sehen.
„Hey", sage ich sanft und berühre sie an der Schulter, woraufhin sie zusammenzuckt, sich mir aber wieder zuwendet.
„Es tut mir so unglaublich leid", flüstere ich tonlos. Meine Stimme versagt. Schuld kriecht meine Kehle hinauf. Zaghaft sieht Kate unseren Vater von der Seite an. Im ersten Moment wirkt sie aufgewühlt und traurig. Mein Vater dahingegen scheint unschlüssig zu sein, wie er sich am versten verhalten soll. Doch als er ihr die Hand entgegenstreckt, damit sie sie ergreift, versändert sich etwas. Sachte schiebt Kate seine Hand beiseite und schließt ihn in die Arme.
Zunächst ist unser Vater sichtlich überfordert mit ihrer Reaktion. Vorsichtig tätschelt er ihr den Rücken. Aber dann verändert sich etwas in ihm. Kleine, stumme Tränen sammeln sich in seinen Augenwinkeln und fließen über seine Wangen. Währenddessen sitze ich neben den beiden, beinahe unfähig, etwas zu empfinden. Ich wäre jetzt gerne für mich. Allein irgendwo, wo mich niemand sehen kann.
„Komm her, Nini!", meint Kate und zieht mich an sich heran. Ich versinke in einer Umarmung, in der ich mich fehl am Platz fühle. Für ein paar Sekunden lasse ich die Nähe zu, doch dann löse ich mich von den beiden.
Auch Kate schiebt meinen Vater von sich fort. Ich erkenne, dass sie noch immer ziemlich aufgewühlt ist. Trotzdem gelingt es ihr, sich zusammen zu reißen. Sie lächelt unsicher. „Damit habe ich jetzt irgendwie nicht gerechnet", gesteht sie und weicht ein Stück von unserem Vater zurück. Dann stellt sie jedoch dieselben Fragen wie ich am Lago di Como.
„Warum hast du uns verlassen? Warum hast du nie jemandem von Leonardo erzählt?" An manchen Stellen hakt sie nicht so genau nach, aber sie möchte trotzdem viel mehr wissen als ich, wie zum Beispiel: „Wo hast du in den USA gelebt? Wer ist Bethany? Wie habt ihr euch kennengelernt? Was hat sie studiert? In welchem Monat ist sie schwanger?" Auf jede ihrer Fragen antworten mein Vater geduldig und ausführlich. Ich häre nur auf halbem Ohr zu.
Parallel beobachte ich die Familie Falcini, die Lucca in ihre Mitte genommen hat. Direkt neben ihm steht Susanna Falcini. Sie weint nun nicht mehr, aber trotzdem kann sie ihre Augen gar nicht mehr von ihm nehmen. Fast schon gierig starrt sie in sein Gesicht. Alessia und Gaia beobachten sie dabei kritisch, als seien sie bereit, sofort einzuschreiten, sobald ihr die Situation zu viel wird. Giacomo hält die letzten Seiten des Tagebuchs seiner Mutter in der Hand und fächert sich mit ihnen Luft zu. Dabei lacht er etwas zu laut, doch ich kann nicht verstehen, was er zuvor gesagt hat.
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Die Elemente
FantasiKate und ich wechseln einen erstaunten Blick. Das ist es also, Marias Geheimnis. Der Grund, aus dem sie uns ihr Tagebuch vermacht hat. "Unglaublich", flüstert meine Schwester. Sie scheint genauso erschüttert zu sein wie ich. Endlich haben wir die fe...