58. Die Katakomben von Orvieto (3)

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Der Raum, der sich hinter dieser Tür befindet, ist nicht besonders groß. In seiner Mitte steht eine kleine, schmucklose Holztruhe, die ich ohne Probleme unter meinen Arm klemmen kann.

Bevor ich sie aufhebe, untersuche ich sie jedoch gründlich. Sie ist abgeschlossen. Weit und breit ist kein Schlüssel zu sehen. Nun dann müssen wir die Kiste wohl so mitnehmen.

„Pietro, kannst du mit einem Handy die Koordinaten checken?", frage ich.

„Klar", sagt er. Durch den fahlen Schein seiner Handytaschenlampe blickt er mich erstaunt an. „42.43.09 Nord, 12.06.44 Ost", liest er vor.

„Dachte ich's mir doch", sage ich. Ich denke an die Tonnen Gestein über unseren Köpfen und an den Platz, auf dem wir vor wenigen Minuten noch gestanden haben. Wir waren damals schon richtig, nur ein paar Meter zu hoch.

„Also gut, lasst uns gehen", beschließe ich und klemme die Truhe unter meinen Arm. Sie ist nicht besonders schwer. Ich kann sie ohne größere Probleme tragen. Ein bisschen enttäuscht bin ich schon darüber, dass wir Leonardo Falcini nicht gefunden haben. Zu gern hätte ich die Suche an diesem Tag beendet. Stattdessen hat uns Maria nur zu einem weiteren Hinweis geführt. Ich seufze. Wäre ja auch zu einfach gewesen, wenn wir unser Ziel bereits erreicht hätten. Gemeinsam machen wir uns auf den Rückweg zu den anderen.

~

„Nun öffne schon die Truhe, Brionny." Pietro reibt sich ungeduldig die Hände. Gemeinsam mit meinem Vater und Lucca sitzen wir unter einem Lindenbaum auf einer Wiese, von der aus man einen wunderschönen Blick auf Orvieto hat.

Nachdem Lucca, Pietro und ich die Truhe in den Katakomben gefunden haben, sind wir den Rückweg angetreten und wieder zu unserer Reisegruppe gestoßen. Vorher hat Lucca die Truhe jedoch in seinem Rucksack versteckt, damit niemand sie sah und uns Fragen dazu stellen konnte. Allerdings schien kaum jemanden in der Reisegruppe aufgefallen zu sein, dass wir fehlten. Die beiden etwas dickeren Touristen sahen sich die ganze Zeit über verliebt in die Augen und schienen abgesehen von einander niemanden wahrzunehmen. Aber auch der Rest der Reisegruppe war viel zu sehr mit dem beschäftigt, was sie gesehen und erfahren hatten. Lediglich die Reiseleiterin hatte bemerkt, dass wir fehlten. „Ragazzi... wo wart ihr denn? Ich habe mir Sorgen gemacht."

„Ich weiß gar nicht, was Sie meinen, wir waren direkt hinter Ihnen", entgegnete Lucca verständnislos. Daraufhin schüttelte sie nur mit dem Kopf, schien seine Erklärung aber zu akzeptieren.

Mein Vater jedoch sah uns fragend an. Als Zeichen, dass wir erfolgreich gewesen sind, reckte ich die Daumen in die Höhe. Nach unserer Führung wollte mein Vater noch mit uns etwas zum Mittag essen. Ich hätte da am liebsten schon in die Truhe gesehen, aber Pietro meinte, wir sollten das lieber nicht in der Öffentlichkeit tun. „Wer weiß, wer uns diesmal zusieht. Gestern wurdet ihr schließlich auch von den Cinquenti überrascht." Ich wollte ihm schon widersprechen, aber Lucca stellte sich diesmal auf Pietros Seite. Die beiden Jungs hatten außerdem Hunger und so war ich überstimmt.

In einem Supermarkt holte mein Vater Sandwiches, sowie eine Menge Süßigkeiten und einen billigen Weißwein. „Das haben wir uns verdient", meinte er, „immerhin haben wir endlich einen neuen Hinweis gefunden." Er scheint nicht verärgert darüber zu sein, dass wir Leonardo nicht gefunden haben. Scheinbar hat er damit auch gar nicht wirklich gerechnet. Ich jedoch bin enttäuscht. Dieses Versteckspiel hat noch immer kein Ende gefunden. Unwillkürlich frage ich mich, wie lange all das so weitergehen soll.

Trotzdem will mein Vater die Truhe so bald wie möglich öffnen. Deshalb ist er mit uns ein Stück von der Stadt weggefahren, auf eine abgelegene Wiese. Dort könnten wir ja dann schließlich die Truhe öffnen und uns erfrischen, hatte er gesagt.

Und so sitzen wir da nun, im Schatten einer Linde auf dem Boden, gestärkt und zum Teil zufrieden.

„Jetztspann uns nicht so sehr auf die Folter", feuert Pietro mich weiteran.

„Also gut." Ich hole tief Luft. Dann nehme ich einen Bolzenschneider von meinem Vater entgegen. Den hat er gemeinsam mit unserem Proviant besorgt. Vorsichtig klemme ich das Schloss an der Truhe in der Zange ein. Gleichzeitig frage ich mich, warum Maria mir nicht einen Schlüssel mit auf den Weg gegeben hat, wenn diese Truhe doch als nächster Hinweis für mich bestimmt war. Habe ich etwas übersehen oder bin ich gerade auf der falschen Fährte?

Ich atme einmal tief durch und drücke den Bolzenschneider mit aller Kraft, die ich aufbringe, zusammen. Das Schloss kracht. Trotzdem kriege ich es nicht durch und muss noch einmal ansetzen. „Jetzt mach schon!", zischt Pietro.

„Halt die Klappe!", fauche ich ihm entgegen. Tatsächlich brauche ich noch zwei Anläufe, bis das Schloss endgültig durch ist.

Im ersten Moment wage ich gar nicht, Luft zu holen. Vorsichtig öffne ich den Deckel der Truhe. In ihrem Inneren liegen zerfledderte Seiten. Mit zitternden Fingern greife ich danach. Als ich entdecke, was es ist, schreie ich begeistert auf und lasse es sofort wieder fallen.

„Was ist denn?", fragt mein Vater. Auch er klingt gereizt. Ich ziehe die Papiere zum Vorschein, die ich eben habe fallen lassen. „Das sind die fehlenden Seiten in Maria Veccas Tagebuch", erkläre ich. Beinahe ehrfürchtig fahre ich mit den Fingern über das Papier. Vielleicht finde ich hier meine Antworten. Eigentlich muss es sogar so sein. Maria hat aufgehört, in ihr Tagebuch zu schreiben, nachdem Leonardo verschwand und angeblich von den Cinquenti getötet wurde. Falls sie etwas über seinen Aufenthaltsort weiß, dann muss es hier stehen.

„Da ist aber noch mehr", merkt Lucca an. Er zieht drei blütenweiße Briefumschläge zum Vorschein. Sie sind an Leonardo und Giacomo Falcini adressiert, sowie „An den Finder".

„Lass sie uns aufmachen", meint Pietro und ergreift den Briefumschlag, auf dem der Name seines Onkels steht.

„Nein", entgegne ich und nehme ihm den Brief wieder aus der Hand, „wir öffnen nicht die Post von anderen Leuten." Ich halte den „An den Finder"-Brief in die Höhe. „Der hier ist für uns."

Ich ziehe meinen Haustürschlüssel aus der Tasche und schlitze mit ihm den Umschlag auf. Der Brief wurde vor anderthalb Jahren geschrieben, erkenne ich an dem Datum in der oberen rechten Ecke. Damals muss Maria bereits todkrank gewesen sein. Ihre Handschrift wirkt zittrig und fahrig. Unglaublich, dass sie in diesem Zustand dann noch die Briefe in den Katakomben unter Orvieto verstauen konnte. Leonardos wahre Identität zu verschleiern und dafür zu sorgen, dass nur ausgewählte Personen ihren Enkel finden, scheint ihr wirklich ein wichtiges Anliegen gewesen zu sein.

Meine Augen huschen über die Zeilen, während mein Herz wild in meiner Brust schlägt. Ich bin richtig aufgeregt. An einer Stelle stocke ich mit dem Lesen und springe ein paar Sätze zurück. Ich wiederhole die Worte, die ich soeben gelesen habe in meinem Kopf, weil ich ihren Inhalt einfach nicht glauben kann. Da fällt es mir wie Schuppen vor den Augen. Ich fühle mich, als wäre ich die ganze Zeit über blind gewesen und könnte erst jetzt, wenn ich diesen Brief lese, richtig sehen.

Mir wird klar, dass ich schon längst wusste, wo Leonardo sich die ganze Zeit über aufhielt. Und ich weiß auch, was mit ihm als kleines Kind passiert ist und wo wir ihn jetzt, in diesem Moment, finden können.

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