Ohne Verstand

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Achtung! Triggerwarnung : Selbstmordgedanken.
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(Jersey POV):
Schon seit Stunden saß ich hier stumm auf dem nassen Schneeboden am Strand. Ich war nicht traurig, nicht wütend, nicht verzweifelt, nicht ängstlich, nicht beunruhigt. Ich war gar nichts. Ich fühlte nichts, sondern starrte einfach nur leer auf das Meer. Nicht mal richtige Gedanken hatte ich. Um mich herum war es laut durch die Sirenen, doch in mir drin war es still. Es war leer, es war wie, als wäre ich tot. So stellte ich mir den Tod immer vor. Die Seele existierte noch, aber man war nicht mehr da. Man lebte nicht mehr. Die Welt um einen herum, schien wie weggeblasen, als hätte sie nie existiert.

Ich spürte die Kälte nicht mehr, ich hörte nichts, nahm nichts wahr, alles war mir gleichgültig. Mir war egal, was mit mir geschah. Sollte ich sterben, erfrieren oder mein ganzes Leben lang hier sitzen bleiben, mir war es egal.

Nun war es wohl soweit. Er hatte mir nicht nur meine Mutter genommen, sondern auch meinen Verstand, meine Gefühle, meine Existenz und mein Leben. Jetzt hatte er das, was er immer wollte. Uns quälen und uns zu Dingen zwingen, bis wir die Grenze überschritten. Bis unser Leben innerlich endete. Bei mir war dies schon der Fall. Er wollte es so und er hatte es bekommen. Ich hatte mich selber verloren, vermutlich für immer.

Hinter mir ertönte eine Stimme, die immer lauter wurde. Sie schien zu Bradley zu gehören. Ich hörte nicht, was er sagte oder was er tat und ich wollte es auch nicht hören. Seine große Gestalt baute sich nun vor mir auf, sodass mir der Blick auf das Meer versperrt wurde. Trotzdem starrte ich geradeaus weiter.

Im nächsten Moment spürte ich etwas großes, warmes um meinen Körper und ich saß nun nicht mehr auf dem Boden, sondern lag schlaff auf ihm. Seine Arme um mich geschlungen. Ich wehrte mich nicht, sondern ließ es gewähren. Meine Augen fielen nicht zu, dennoch waren sie irgendwo anders, nur nicht in dieser Welt. Ich wusste nicht, wohin er mich schleppte. Hoffentlich war es der Himmel oder noch besser - die Hölle. Diese Erde war ein furchtbarer Ort und ich wollte hier nicht mehr länger verweilen. Ich wollte endgültig sterben. Das Leid beenden. Alles beenden.

Ich merkte wie ich hin und her ruckelte, was darauf schließen ließ, dass wir uns in einem Auto befanden.
Einige Minuten später, oder waren es vielleicht Stunden?, nahm ich ein Klingeln wahr. Meine Sinne waren wohl wieder etwas geschärft, denn ich konnte Bradley deutlicher sprechen hören.

„Wie bitte?", dröhnte seine eindringliche Stimme zu mir rüber.

„Nein, nein, das muss ein Irrtum sein. Ry- Ryan würde niemals zwei Menschen umbringen", schrie er in sein Smartphone.
„Ja, ich komme sofort!"

Mein Atem stockte und ich spürte, wie mir alle Farbe aus dem Gesicht wich. Ryan, zwei Menschen umgebracht? Umgebracht. Getötet, durch eine Explosion? Wald. Meine Gedanken kreisten und ich konnte nicht fassen, was ich dort eben gehört hatte.

Vorhin, da sah ich für einen kurzen Augenblick Ryan im Wald. Zunächst dachte ich, es wäre eine Illusion, doch er war es wirklich. Es konnte nicht wahr sein. Ryan hatte sich für schuldig erklärt. Für mich. Wegen mir saß er im Knast.
Ohne es wirklich zu merken, bewegte ich mich. Noch immer gefangen in meinen grausamen Gedanken, hatten sich meine Beine selbstständig gemacht. Ich wusste nicht, wohin ich gehen würde, doch ich tat nichts dagegen. Mein Gehirn würde wohl wissen, wo es hinwollte.

Einige Zeit später wurde ich plötzlich aus meiner Trance gerissen. Es ertönte ein lauter Schrei.
„Nein, bitte Jay, tu das nicht!", nahm ich Grace Stimme wahr, wobei ich keine Ahnung hatte aus welcher Richtung sie kam. Vielleicht stand sie unten und blickte zu mir rauf, vielleicht stand sie hinter mir oder aber sie war eigentlich gar nicht da, sondern nur eine Illusion. Ich wusste nicht mehr, was echt war und was mir mein Verstand nur vorspielte.

Erst in diesem Moment war ich wieder einigermaßen in der Realität, meine Augen öffneten sich, ich nahm wieder Geräusche und die Welt um mich herum wahr.

Das was ich als Erstes sah, schockte mich. Ich saß nicht mehr irgendwo in der Nähe von Bradley und Kyrie, sondern stand auf Kyries 'Dach. Im wahrsten Sinne des Wortes. Meine Beine hatten mich auf das Dach getragen. Ich stand auf dem Rand, starrte direkt auf den Abgrund. Unten sah ich Pflastersteine, die zum Eingang von Kyries Villa führten, rechts und links daneben, wegen des Winters kahle Äste von großen Eichen. Mein rechter Fuß baumelte bereits am Abhang und wäre Grace eine Sekunde später gekommen, dann wäre ich jetzt wohl tot oder zumindest verletzt.
Ganz im Ernst - mich hätte es ganz und gar nicht gestört, wenn ich jetzt das Dach runtergefallen wäre. Vielleicht wäre ich sogar erleichtert und froh. Im Moment gab es nichts das ich mir sehnlicher wünschte, als den Tod. Das Leben im Jenseits, wenn es das überhaupt gab. Für einen kurzen Augenblick dachte ich ernsthaft darüber nach, mich tatsächlich fallen zu lassen. Ich war mir sicher, der Tod wäre angenehmer als die Tatsache, dass ich zwei Menschen umgebracht hatte und mein bester Freund dafür in den Knast gehen musste.

Noch immer spürte ich rein gar nichts, außer dem heftigen Drang, mich aus den geschätzten 15 Metern Höhe des Daches zu stürzen. Wieso sollte ich denn noch weiterleben? Was war der Sinn für mich zu leben? Was hatte ich noch, was mich hier auf der Erde hielt? Da war nichts mehr. Ich hatte nicht nur meine Mutter und Ryan verloren, sondern auch mich selbst. Von nun an gab es keine Hoffnung mehr für mich und ich musste dieses Leid beenden.

Ohne mein Gehirn, meine Gedanken, Gefühle, meinen Verstand und meinen Körper zu steuern, stellte ich fest, wie ich bereits schwankte. Mein linker Fuß stand nur noch mit der hinteren Hälfte der Sohle auf dem Rand des Daches, der Rechte gar nicht mehr auf festem Grund.

Mein Überlebensinstinkt traf mich mit einem Schlag und mein Körper versuchte sich mit den Armen fuchtelnd auszubalancieren, doch es war bereits zu spät. Ich spürte einen leichten Windzug von hinten, welcher mir dann endgültig den letzten Schub gab und mir den Halt wegnahm.

Mein Fuß verließ den Rand des Daches, ich schloss meine Augen und sah dem Tod wortwörtlich in die Augen. Mehr nahm ich nicht wahr. Alles um mich herum drehte sich und eine schwarze Leere umhüllte mich, die mich ungewöhnlicherweise wohlfühlen ließ.

𝚃𝚛𝚞𝚝𝚑 𝚘𝚛 𝗗𝗮𝗿𝗲Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt