Als ich aufwachte war der Tag bereits in den Nachmittagsstunden. Nach Hause gegangen war ich erst früh morgens, als der Sonnenaufgang das Ende der ersten Festnacht angekündigt hatte. Meine Mutter hatte zum Glück keine weiteren Fragen gestellt nachdem sie mich in einer verlassenen Gasse mit vermutlich sichtlich verwirrtem Gesichtsausdruck aufgefunden hatte. Stattdessen hatte sie mir einen besorgten Blick zugeworfen und mir Bescheid gegeben, dass sie Noah zurück ins Wirtshaus bringen würde, da es bereits kurz nach Mitternacht war.
Jetzt, einige Stunden später, begutachtete sie mich immernoch mit einem seltsamen Ausdruck wann immer sie dachte, dass ich es gerade nicht bemerkte. Ich fürchte es war bereits so weit, dass meine Mutter dachte, ich hätte den Verstand verloren.
Von Diana erzählen wollte ich ihr nichts. Es würde sie nur unnötig aufwühlen.Nachdenklich lief ich wenig später auf und ab. Ich hatte mir fest vorgenommen Roxana zurückzuschreiben, zumal ich ihren Brief nun schon seit einer Woche unbeantwortet mit mir herumschleppte. Trotz meinem Vorsatz war ich in der vergangenen Viertelstunde nicht weiter gekommen als "Liebe Roxana, ich bin...". Was war ich denn nun? Aufgeregt? Müde? Nachdenklich, vielleicht? Mein Blick blieb an meiner Projekt-Schlingpflanze hängen, die mit jedem Tag an Größe und vor allem Stärke gewann. Als diese mit jedoch auch nach intensivem Starren keine Briefzeilen diktierte, wandte ich mich ab.
Seufzend setzte ich mich ans Fenster und betrachtete das Treiben auf den Straßen. Obwohl wir in einem ruhigen Teil der Stadt übernachteten, schienen alle Leute die draußen herumwanderten äußerst beschäftigt und vergnügt zu sein.Ich konnte Roxana unmöglich von meiner nächtlichen Begegnung erzählen. Schon seit ich denken konnte, hatte sie schreckliche Angst vor allem, was nicht in ihre verträumte, romantische Welt passte. Zum Leben erweckte Tote waren dort reichlich fehl am Platz.
Nach einer weiteren halben Stunde war ich dann soweit, dass ich einen kompletten, wenn auch sehr kurzen Brief geschrieben hatte."Liebe Roxana,
ich bin unbeschwert.
Die Zwischenprüfungen sind vorbei (auch wenn sie mich einige Nerven gekostet haben), die Chancen für meinen Vater stehen gut und die Festlichkeiten hier sind atemberaubend. Ich erzähle dir bald mehr.
Grüße aus Palona,
Lyria."Das war kein literarisches Meisterwerk, sollte aber genügen bis ich mich auf etwas anderes konzentrieren konnte, als eine Nebelerscheinung mitten in der Nacht, die nichts als Fragen aufgeworfen hatte. Ich brannte darauf die Antworten zu ihnen zu bekommen.
Als sich der Tag endlich der Nacht Platz machte und der Mond, der zuvor am hellichten Tag sehr schwach zu sehen war, mit jeder Minute heller wurde, begab ich mich wie schon am Tag zuvor auf die belebten Straßen Palonas.
Die aufgeheiterte Festlaune zog mich erneut in ihren Bann, doch ich war nicht mit meiner ganzen Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt. Stattdessen huschten meine Augen hin und wieder aufmerksam hin und her um auch den kleinsten Hinweis auf die Anwesenheit einer gewissen Geisterfrau nicht zu verpassen.Als es Mitternacht schlug und meine Mutter Noah zu Bett brachte, bot sich mir die passende Gelegenheit. Eilig lief ich dorthin, wo ich die Seitengasse der gestrigen Nacht vermutete. Bevor ich jedoch an dem Tierpfeifen-Laden, der mir noch sehr penetrant in Erinnerung geblieben war, vorbeiziehen konnte, zog mich eine zarte Hand mit sich. Es fühlte sich wahrlich seltsam an ein Gespenst zu berühren. Ich ahnte, dass die Festigkeit von Dianas Hand unter genügend Druck nachgeben würde, doch ich wagte es nicht meine Theorie zu überprüfen, da ich ahnte, dass es sich nicht gehörte ein Gespenst um seinen körperlichen Wiederstand zu betrügen.
Diana zog mich durch Gänge und Seitengassen bis wir einen verlassenen Teil der Stadt erreichten. Ab und zu tauchten dubiose Gestalten im Schatten auf, die unsere Präsenz jedoch nicht weiter zu beachten schienen.
"Du hast mir gestern keinen Namen verraten bei dem ich dich nennen kann."
"Ich heiße Lyria", antwortete ich wahrheitsgemäß. Es schien mir bei Diana nicht verwerflich einer Fremden meinen Namen zu nennen.
"Ich habe viele Fragen an dich. Du musst mir natürlich nicht antworten wenn du nicht willst."
Diana zog es vor zu schweigen. Schaurig schön sah sie aus, wie sie an das Geländer der kleineb Brücke lehnte, auf der wir standen, und ihre traurigen Augen den Vollmond wiederspiegelten.
"Wie alt bist du?", fragte ich um nicht direkt ihren Tod anzusprechen.
"Viele Jahre, älter als das Leben normalerweise bereithält. Aber falls du mein Gesicht meinst, so bin ich auf ewig fünfzehn geblieben."Älter als das Leben normalerweise bereithält.
Ich brauchte einen Moment um den Sinn ihrer Worte zu erfassen. Älter als die Dauer eines Lebens also. All diese Jahre hatte sie ihr jugendliches Gesicht behalten.
"Wie ist es passiert, wenn ich Fragen darf?"Vergeblich wartete ich auf eine Antwort.
"Weißt du was vor Hundertdreiundsiebzig Jahren war, Lyria?", fragte sie stattdessen.
Angestrengt dachte ich an meine Stunden in Geschichte der Republik und auch noch jeden sonstigen Fetzten unserer Geschichte, die ich irgendwo aufgeschnappt hatte. Bedauernd schüttelte ich den Kopf.
Diana nickte als hätte sie diese Antwort sowieso erwartet."Das ist so, weil auch nichts besonders war. Zumindest nichts wovon irgendwer jemals erfahren hätte.
Jahre um Jahre gaben die Könige der Dynastie Iregons ihre Krone an ihre Söhne weiter. Ein beständiger Kreislauf, dem erst vor siebzehn Jahren ein Ende gesetzt wurde."
Zeichen großer Trauer huschten durch ihre Augen. Hatte sie die Königsfamilie, die von den Rebellen getötet worden war, gekannt?
"Keine tragische Liebe und eine naive Zofe der Königin hätten diese Verlauf vor hundertdreiundsiebzig Jahren durcheinandergebracht", schloss sie ihre Erklärung ab, die mich nur verwirrter als vorher zurückließ.Sprach sie von sich selbst, die Zofe der Königin? Hatte vielleicht der Zorn des Königspaares ihr Leben gekostet? Aber was hatte das mit einer tragischen Liebe zu tun? Ich konnte mir keine logische Geschichte daraus schließen, doch ich traute mich auch nicht weitere Fragen zu stellen.
"Es muss dir sehr wichtig sein, dass dir niemand begegnet", sagte ich um von dem Thema abzulenken, das ihr soviel Kummer zu bereiten schien. Dabei deutete ich auf unsere unheimliche, verlassene Umgebung.
"Du bist der erste Mensch mit dem ich rede seit der General wieder abgereist ist, Lyria. Die Menschen hier haben Vorurteile, sie begeben sich nicht gerne in die Gegenwart eines Geistes", ihr Blick traf meinen, "Ich kann das verstehen, auch wenn es mich einsam macht."
Ihre Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. "Es war schön dich getroffen zu haben. Tu mir einen Gefallen und lass dich nicht abschrecken von Äußerlichkeiten, es gibt so viel wichtigere Werte." Und noch bevor ich etwas erwidern konnte, war ihre zierliche Gestalt in der Dunkelheit einer verlassenen Straße verschwunden.~1116 Wörter
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Silbergrau
Fantasy(wird überarbeitet) -Band 1- Wie jedes Jahr werden am 20. September, dem Nationalfeiertag der Republik, neue Jungmagier im Zentrum für magische Begabung empfangen. Dieses Jahr ist auch Lyria Ashton unter den 17. jährigen Magiern. Auch sie muss den n...