Kapitel 6a

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Die Nacht ist kurz. Nicht nur wegen der zu kleinen und harten Pritsche, auch Albträume erschweren den Schlaf. Als ich gerade drohe in einen erneuten Schlaf zu fallen, wird die Türe aufgerissen.

„Guten Morgen", brüllt Beynon zu fröhlich für meinen Geschmack. Genervt fahre ich hoch und werfe ihm einen bösen Blick zu, den er mit einem Grinsen abschmettert. Mein abruptes Hochfahren, schmeißt Kian beinah von dem alten Holz, doch er kann sich kurz vor dem Fall noch fangen und setzt sich auf. Wohl bedacht Beynon im Auge zu behalten und mich hinter sich zu schützen. Mit einer Fackel schreitet Beynon in die kleine Zelle.

„Schönheitsschlaf könnte deine außergewöhnliche Schönheit eventuell doch brauchen. Mein Angebot steht, falls du dich umentscheiden willst." Beynon zwinkert mir schelmisch zu. Doch ich kann auch einen Hauch von Bewunderung sehen.

„Was fällt dir eigentlich ein?", schreit ihn Kian gereizt an und springt von der Pritsche auf Beynon zu. Im nächsten Moment erscheint Kuno hinter ihm und Kian macht einen Schritt nach hinten. Gegen den Muskelprotz kann Kian nichts anrichten. Belustigt lacht der Thronerbe von Evrem auf und macht einen Schritt auf mich zu. Kian stellt sich schützend vor mich. Ich sitze immer noch auf der Pritsche und beobachte das immer kleiner werdende Zimmer. Mit drei ausgewachsenen Männern und mir wirkt der Raum wie ein Kleiderschrank. Viel zu klein und keine Luft zum Atmen.

„Du nimmst sie sicher nicht mit", zischt Kian genervt.

„Wenn sie ihre Mutter sehen will, dann sollte sie das aber." Er lacht, als habe er gerade einen Witz erzählt. Ohne ein weiteres Wort starrt er streng in Kians Augen und ich nehme an, Kian tut es ihm gleich, denn er bleibt fixiert auf den jungen Mann, der vor mir steht.

„Ist schon gut, Kian", versuche ich meinen Beschützer zu beruhigen. Kian schreckt kurz zusammen, als meine Stimmer ertönt, beinah als habe er vergessen, dass ich hinter ihm stehe. Er verharrt in seiner Position und wendet den Blick nicht von Beynon ab.

„Bringst du mich wirklich zu ihr?", frage ich sicherheitshalber und stelle mich neben Kian. Beynon nickt und streckt mir seine Hand entgegen. Langsam dreht sich Kian zu mir und schaut mich besorgt an.

Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, sagt sein Blick.

Ich dachte meine Mutter ist tot und jetzt ist sie es nicht. Ich muss sie sehen, fleht meiner. Verständnis blitzt in seinem Blick. Als Bestätigung nickt er mir leicht zu und ich nehme einen tiefen Atemzug. Nur Mut.

Ich gehe an Beynon vorbei und auf Kuno zu, der verwundert zu dem Thronerben von Evrem blickt. Mit verschränkten Armen stehe ich neben dem Muskelprotz, tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden und starre zu ihm. Kian schaut mich immer noch besorgt an, doch ohne Protest.

„Ist schon gut", versuche ich ihn zu beruhigen, doch er behält seine strenge Miene. Kurz schaut auch Beynon zu ihm und ich höre ihn amüsiert auflachen. Dann dreht er sich zu mir um und wir schreiten über den Flur.

„Bevor ich dich zu deiner Mutter bringe, müssen wir dich aus dieser scheußlichen Kleidung befreien und eine Dusche wird dir zu deiner normalen Schönheit verhelfen." Seine Stimme klingt vorfreudig und für einen Moment befürchte ich, dass ich mich in seiner Gegenwart umziehen und duschen müsste. Zu meiner Erleichterung bringt er mich in einen kleinen Raum. Er verschließt die Türe und lässt mich alleine zurück. Eine halbe Stunde habe ich Zeit, hat er mich informiert, bevor die Türe ins Schloss fiel.

Der kleine Raum gibt nicht viel her. Er wirkt ähnlich zu den Gästezimmern im Palast in Merah. Ein kleiner Raum mit einem Doppelbett, einem kleinen Schrank, schmalen Schreibtisch und einer kleinen Sitzecke. Über dem Sessel liegt ein Samtkleid in Rot, ein frisches Handtuch und ein paar schwarze Ballerinas.

Schnell schnappe ich mir die Sachen und verschwinde hinter der Türe, die ins Badezimmer führt. Ich schließe sie ab, um sicherzustellen, dass Beynon nicht doch auf dumme Gedanken kommt und betrachte mich erschrocken im Spiegel.

Ein Mädchen mit leicht eingefallenen Wangen, tiefen Augenringen, blasser Haut und wirrem Haar blickt mir entgegen. Ich ertrage den erbärmlichen Anblick von dem verschmutzten kleinen Mädchen nicht und wende mich ab. Zögerlich streife ich mir die Kleidung vom Leib und steige in die Dusche. Kurz fällt mein Blick auf das immer noch leuchtende blaue Symbol auf meinem Arm. Ich verdränge die Fragen, die aufkommen und versuche mich erst einmal an die Gegenwart zu heften.

Warmes Wasser läuft über meinen Körper und scheint nicht nur den Dreck, aber auch die Bedrücktheit von mir zu spülen. Das wohlriechende Rosenshampoo lässt mich kurz in Gedanken durch den Vorgarten des Palastes wandern. Für eine Sekunde zaubert es ein Lächeln auf mein Gesicht, als Jaydens Gesicht vor mir auftaucht. Bis ein lautes Donnern an der Türe mich aus meinem Tagtraum reißt. Ich sehe wie jemand an der Türe rüttelt und bin froh, dass ich daran gedacht habe abzuschließen.

„Du hast noch fünf Minuten", dringt Beynons Stimme gedämpft durch die Türe. Schnell spüle ich die Seife von meinem Körper und streife das langärmlige, knielange rote Kleid über. Angenehm legt es sich über meinen Körper. Wäre ich nicht in dieser Situation, könnte ich mich beinah in das elegante, aber schlichte Kleid verlieben. Meine Halskette, die ich immer noch trage, verstecke ich im hohen Ausschnitt des Kleides und binde mir meine Haare zu einem hohen Knoten.

Kurz darauf folge ich Beynon einen weiteren Gang entlang und ein weiteres Stockwerk nach oben. Wir treten in einen kleinen Raum mit einem reich gedeckter Frühstückstisch. Meine Mutter, so wie der kleine Willem, strahlt mir glücklich entgegen. 

Mein Herz macht einen Sprung, als ich die beiden sehe. 

Sie wieder vor mir zu sehen, vertreibt all meine Sorgen, Wut, Angst und Bedenken. Was bleibt ist die tiefe Liebe und Freude, die die beiden in mir auslösen.

Ich setze mich auf den Stuhl neben meine Mutter und zu meiner Enttäuschung setzt sich Beynon neben mich. Etwas schockiert, dass auch er unserem Familienfrühstück beiwohnt, verdränge ich den Blick in seine Richtung und wende mich stattdessen zu meiner Mutter. Bei jedem Wimpernschlag befürchte ich, dass sie sich in Luft auflöst und alles nur ein Traum ist. Weshalb ich nach ihrer Hand greife. Sie ist echt. Keine Halluzination. Immer wieder muss mein Verstand mir das bestätigen.

Hungrig greife ich zu. Die Speisen schmecken so gut wie das Essen im Palast, das Kian mir mitgebracht hatte. Fit für einen König, keine Frage. Mit dem Verdacht, dass Kian kein Frühstück aufgetischt wird, stecke ich heimlich ein paar der Leckereien ein. Ich versuche mir jeden Zentimeter meiner Mutter und meines kleinen Bruders einzuprägen. Beynon besteht darauf, während dem Essen nicht zu sprechen, sodass wir nur Blicke auswechseln können. Der Anblick, der beiden alleine zaubert mir bereits ein Lächeln auf meine Lippen.

Nach dem Essen bringt mich Beynon zurück zu Kian, nachdem ich das rote Kleid gegen ein paar frische schwarze Hosen und ein viel zu großes Männerhemd tausche. Mein Verdacht bestätigt sich, dass Kian tatsächlich nicht einen Bissen zu essen bekommen hat. Glücklich reiche ich ihm die wenigen Leckereien, die ich eingesteckt habe. Während ich ihm von dem Geschehen erzähle, verdrückt er die spärliche Mahlzeit gierig.

Die Flucht (Merahs Fluch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt