Kapitel 26a

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Kians fragenden Blick beantworte ich mit der Erklärung, dass ich meiner Mutter einen Brief schreiben werde. Ich will sie nicht einfach ohne Antworten zurücklassen. Muss ihr erklären, dass ich sie nicht zurücklasse; dass ich wieder komme? Erklären, weshalb ich mein Versprechen breche.

Liebe Mutter,


Ich weiß nicht, wie ich diesen Brief beginnen soll. Doch ich weiß, dass ich ihn schreiben muss. Ich muss dir erklären, weshalb ich mein Versprechen breche, dich zurücklasse und dir nichts sage. Ich kann dich nicht mit Fragen quälen, wie du es die letzten Wochen getan hast. Es tut mir leid, dass ich euch nichts gesagt habe und euch nicht über meine Pläne berichten konnte. Doch wie auch. Wir bekommen keinen Moment alleine und wenn, sehe ich dir an, dass du dich unwohl fühlst.

Wir haben versucht eine Möglichkeit zu finden, dass wir zu viert von hier entkommen können. Ich wollte euch nicht zurücklassen. Das will ich immer noch nicht. Aber ich habe keine Wahl. Ich kann nicht hier bleiben. So tun als wäre ich nicht meiner Heimat entrissen wurden, gegen meinen Willen festgehalten und zwangsverheiratet, wie du. Das ist kein Leben, dem ich bereit bin kampflos entgegenzugehen und ich verstehe nicht wie du das kannst.

Ich verspreche euch, wir kommen zurück. Ich weiß, es gibt Dinge, die du mir nicht sagen konntest. Dinge, die ich wissen sollte, doch du entschieden hast mir nicht zu erzählen.

Ich bin überzeugt, dass, was ich tue, das Richtige ist. Dass auch Vater sich gewünscht hätte, dass wir das alles nicht so hinnehmen wie du es tust. Er würde nicht sehen wollen wie dieser Ort uns weiter denn je voneinander entfernt.

Ich liebe dich Mutter. Ich liebe meinen Bruder und das ist der Grund weshalb ich kämpfe, weshalb ich flüchte und weshalb ich das alles nicht einfach annehmen kann.

Ich hoffe du verstehst mich. Hoffe, du kannst mir verzeihen. Gibt die Hoffnung nicht auf. Ich komme zurück.

Deine, Emmelin

Ich betrachte die geschwungenen Worte. Lese den Text erneut durch, doch fühle einen Stich im Herzen. Meine Worte sind nicht gerecht. Es ist richtig. Beinah falsch und nagt an mir. Frustriert zerknüllte ich den Brief und werfe ihn durch den Raum. Das sollten nicht meine letzten Worte sein, das möchte ich nicht. Ich nehme mir ein weiteres Blatt und beginne erneut.

Frustriert zerreiße ich einen Brief nach dem anderen. Ganze fünf Schriftsätze später, bin ich mit dem Ergebnis soweit zufrieden, dass ich ihn nicht wie die anderen in tausend Stücke zerfetzen will.

Mutter,

Es tut mir leid, dass ich mein Versprechen brechen muss.

Ich liebe dich. Ich komme zurück für euch.

Emmelin

Die kurzen Worte scheinen mir kraftvoller, als die langen Zeilen die ich zuvor geschrieben habe. Ehrlicher und auf den Punkt gebracht. Sorgfältig falte ich das Papier zu einem Brief und lege ihn auf den Schreibtisch.

Kian sitzt die ganze Zeit neben der Tür und lauscht den Geräuschen auf dem Gang. Wir müssen sicherstellen, dass keine Wachmänner oder Angestellten auf den Gängen wandern. Wir haben bis sieben Uhr morgen früh Zeit, das Schiff von Avis und seinem Vater zu erreichen. Uns dort zu verstecken, bevor unser Fehlen bemerkt wird. Alles zum Besten durchgeplant und der Hoffnung, dass wir ihn genauso ausführen können, ist alles, was uns bleibt.


Inzwischen steigt die Nervosität und auch die Angst. Jedes Mal, wenn ich meine Lider schließe, strahlen mir die Augen von Jayden entgegen und sprechen mir Mut zu.

„Hast du Angst?", höre ich Kian fragen, der sich neben mich auf das Bett setzt.

„Ja." 

Angst davor erwischt zu werden.  - Angst davor, was sie uns antun. 

Angst davor, dass wir es nicht schaffen. - Angst davor, dass wir es schaffen. 

Angst davor, was meine Mutter morgen früh denkt, wenn wir es schaffen. 

Angst davor mich selbst zu enttäuschen. 

„Und du?", frage ich mit einem Zittern, von dem ich hoffe, dass nur ich es hören kann.

„Nur wer Angst hat, kann mutig sein", entgegnet er mir mit einem breiten Grinsen, das nicht ganz zu seinen Augen reicht.

„Hast du das bei deinen privat Tutoren gelernt?", amüsiere ich mich über seine Aussage, um die Angst zu überspielen. Kians Blick wird traurig und er lässt sich auf den Rücken fallen, um die Decke zu betrachten.

„Nein. Das ist das letzte an das ich mich erinnere, das mein Mutter zu mir sagte." Obwohl ich das leichte Zittern in seiner Stimme höher kann, scheint es von der Angst der Flucht und nicht der Gedanke an seine Mutter zu stammen. Er hat noch nie viel über sie gesprochen und ich wollte ihn nicht drängen. So wie mir Jayden Mut gibt, scheint seine Mutter sein Anker zu sein.

„Kannst du dich noch gut an sie erinnern?", frage ich vorsichtig und lasse mich auf das Bett fallen. Ich selbst hatte bemerkt, wie über die Jahre die Erinnerungen an meine Eltern verblassten. Was jedoch daran lag, dass ich mir nicht erlaubte an sie zu denken, um nicht den Halt zur Realität zu verlieren. Erst im Palast, als ich das Brandmal der königlichen Angestellten erhalten habe, sind die Erinnerungen wieder in mich eingestürzt.

„Nur etwas. Ich sehe ihr Gesicht deutlich vor mir, aber kann mich nicht an ihre Stimme erinnern." Er atmet kurz durch und dreht sich zu mir. „Wir werden es schaffen und wir kommen für deine Familie zurück", sagt er erneut, schaut mir feste entgegen und beginnt zu lachen. Jetzt wird auch Kian verrückt.

„Aber nicht in dem Outfit", sagt er, nachdem er sich etwas gefangen hat. Ich trage immer noch das hellblaue Kleid von heute Morgen. Ein Blick auf die Uhr verrät, dass es kurz vor Mitternacht ist. Noch eine Stunde bevor wir den Palast verlassen werden. Ich streife mir ein paar der dunklen Kleider von Kian über und trete zurück in den Raum. Kian hält ein Stück Papier in der Hand und ist vertieft in dessen Inhalt. Als ich näher komme, erkenne ich den ersten Brief an meine Mutter und versuche ihn ihm zu entreißen.

„Kian was machst du?", frage ich wütend und versuche erneut den Brief an mich zu nehmen.

„Gut, dass du dich nicht hierfür entschieden hast", sagt er kurz und reicht mir den Brief. Ohne einen weiteren Kommentar lässt er sich wieder neben der Türe nieder, um sich den Geräuschen oder besser der Abwesenheit der Geräusche, auf dem Gang zu widmen.

Die nächste Stunde verbringen wir in unseren Gedanken, um die Anspannung zu ignorieren. Zweifel überschlagen sich mit motivierenden Worten, die wieder von schlechtem Gewissen übergossen werden, die mit Vernunft bedeckt wird. So wiederholt es sich wieder und wieder und wieder.

„Es ist Zeit", höre ich Kians Stimme meinen Gedanken durchbrechen und ich richte mich auf. Ich nicke ihm kurz zu. Schließe meine Augen, um den Mut von Jayden zu tanken. Doch stattdessen sehe ich die moosgrünen Augen meines Bruders und meiner Mutter. Ich ziehe scharf die Luft ein und reise meine Augen wieder auf. Ich komme für euch zurück, versprochen.

Ich schnappe mir den Brief und folge Kian auf den leeren Gang. Um nicht den kleinsten Ton zu machen, halten wir die Schuhe vorerst in der Hand und schleichen so durch den Palast. Ich gehe voran, da ich im Gegensatz zu Kian, den Palast beinah blind kenne. Zumindest der Abschnitt, der für heute relevant ist. Zuerst halten wir an der Türe meiner Mutter. Ich kämpfe gegen den Drang anzuklopfen oder in das Zimmer zu stürzen. Vorsichtig schiebe ich den Brief unter der Türe hindurch und bete, dass mir meine Mutter vergeben kann.

Ein weiterer Blick um die Ecke, bevor wir den nächsten entlang huschen. Der ganze Palast liegt unter einem Schleier der Stille. Es ist beinah beängstigend, aber auch beruhigend. Wir nutzen die spähe Beleuchtung, um uns im Schatten zu bewegen. Zu unserer Erleichterung begegnet uns tatsächlich kein Bediensteter. Die erste Hürde ist geschafft. Wir erreichen das Erdgeschoss, ohne Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Von unserem Standpunkt können wir zwei Wachmänner vor dem Haupttor stehen sehen. Ich brauche einen kurzen Moment, um mein Herz, bei ihrem Anblick, zu beruhigen. Sie schauen starr in der Gegend umher, doch die Müdigkeit ist in ihren Augen deutlich sichtbar.

Die Flucht (Merahs Fluch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt