Kapitel 9b

1.3K 110 7
                                    

Ich muss eingenickt sein, das Nächste, was ich mitbekomme, ist, wie es an der Türe klopft und die Sonne langsam am Horizont untergeht. Das Abendessen essen wir normalerweise auf dem Zimmer, weshalb Minerva nicht noch einmal zum Ankleiden kommt. Erneut klopft es an der Türe und ich raffe mich auf. Müde drücke ich die Türklinke hinunter und öffne die Türe.

„Ich hatte schon Angst, du treibst dich wieder unerlaubt im Palast herum", berichtet Leander belustigt, als er mich sieht. Kurz schaue ich nach den Wachmännern, die schon wieder nicht da sind.

„Oh, habe ich dich geweckt. Du siehst – Na ja, du siehst aus als wärst du gerade erst aufgestanden", bemerkt er belustigt und mustert mich. Der kleine Mittagsschlaf vernebelt meine Gedanken. Müde reibe ich mir über die Augen und durchs Haar.

„Leander? Was machst du denn hier?", frage ich mit leicht verschlafener Stimme.

„Ich wollte dich eigentlich zum Sternenschauen abholen."

Sofort bin ich hellwach. Meine Sterne. Kann ich sie endlich wieder sehen? Fröhlich quietsche ich auf und klatsche in die Hände. Ich muss wie eine fünfjährige aussehen, doch in dem Moment ist mir das egal.

„Ich nehme das als ein Ja?"

„Natürlich", trällere ich glücklich und mache einen Schritt auf den Gang. Leander mustert mich etwas verwirrt und ich folge seinem Blick zu meinen Füßen.

„Vielleicht solltest du dir ein Paar Schuhe anziehen und ich denke, eine Jacke wäre auch sehr praktisch." Wir müssen beide lachen. Schnell eile ich zurück ins Zimmer, ziehe mir Socken und Schuhe über. Ich durchsuche den Schrank nach einer Jacke, werde jedoch nicht fündig. Ich stecke mir das Hemd in die Hose, um nicht ganz verrückt auszusehen und eile zurück zu Leander.

„So wie es aussieht habe ich keine Jacke", sage ich betroffen und blicke ihm dabei nicht in die Augen. Er packt sich fröhlich meinen Arm, schließt die Türe hinter mir und zieht mich den Gang entlang.

„Kein Problem. Ich hab sicher noch eine für dich. Die passt sowieso besser zu deinem Outfit." In der ganzen Aufregung habe ich vergessen Kian Bescheid zu geben.

„Oh, ich hab etwas vergessen. Warte kurz", rufe ich ihm zu, während ich zurück zum Zimmer laufe. Nachdem ich Kian Bescheid sage, laufe ich wieder zurück zu Leander, der mich fragend begutachtet, aber nicht weiter nachfragt.

Kurz verschwindet er in seinem Zimmer und taucht wenig später mit zwei schwarzen Mänteln auf. Gentlemen-like hilft er mir in den viel zu großen Mantel. Bei dem Anblick muss auch ich lachen.

*

Die kalte Luft fließt sanft über meine Haut und kurz fröstelt es mich. Ich genieße jeden Atemzug. Denn zum ersten Mal fühlt es sich an wie Freiheit. Obwohl ich schon viele Nachmittage mit Beynon hier war, ist es heute das erste Mal, dass ich freiwillig hier draußen bin. Die kühle Luft duftet einzigartig nach Rose. Der Wind spielt mit meinen Haaren und liebkostet meine Wangen. Jeder Atemzug fühlt sich an wie der beste meines Lebens. Die innere Freude sprudelt in mir auf und wie ein kleines Mädchen beginne ich mich mit ausgestreckten Armen im Kreis zu drehen. Immer schneller und schneller. Die Welt um mich herum nur noch ewige Weite mit funkelnden Sternen. Ein Freudenschrei entweicht meiner Kehle und ich komme langsam wieder zum Stillstand. Um mich dreht sich alles, doch meine Gedanken stehen still. Nicht wirbelt darin herum wie sonst. Keine Fragen. Keine dunklen Gedanken. Keine Erinnerung.

Es dauert einen weiteren Augenblick bis meine Augen wieder zu Leander finden. Dieser beobachtet mich aufmerksam und betrachtet mich mit einem intensiven Blick. Das Grinsen in meinem Gesicht reicht von einem Ohr zum anderen. Ich nehme einen weiteren Atemzug und wage einen erneuten Blick zu Leander. Sein Blick ist noch derselbe.

Die Flucht (Merahs Fluch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt