Vorsichtig nehme ich das kalte Metall in die Hand und blicke erneut durch die kleine Öffnung wie zuvor. Wie von Zauberhand werde ich wieder in den Nachthimmel getragen. Wie auf Flügeln scheine ich langsam hinauf zu schweben. Sanft in den Schoss der Sterne gelegt und dort eingelullt.
„Denkst du, ein Vogel in Gefangenschaft, kann lernen zu lieben, den, der ihn gefangen hält?", erschreckt mich Leanders sanfte Stimme und ich löse mich von dem Anblick, der mich getragen hat. Verwirrt schau ich zu ihm. Was ist das für eine Frage?
„Wie könnte man den Menschen lieben, der einem die Freiheit raubt?", beantworte ich mit einer Gegenfrage.
„Was wäre, wenn der Grund für den Käfig, die Raubtiere sind, die um den Vogel kreisen. Was, wenn der Vogel aufgrund eines gebrochenen Flügel ihnen ausgeliefert gewesen wäre? Was, wenn der Grund für den Käfig nur der ist, um Zeit zum heilen zu haben, um anschließend den Raubtieren zu entweichen? Was, wenn die Gefangenschaft zum Schutz des Vogel ist?", fragt er mit einem eindringlichen Blick, der mir eine Gänsehaut über den Rücken laufen lässt.
„Wie sollte der Vogel, das wissen, wenn der Mann es ihm nicht sagt? Wie kann er mehr sehen, als die beraubte Freiheit?" Leander atmet kurz tief ein und aus. Auch er erkennt die Wahrheit hinter meinen Worten. Ich sehe ihm an, wie auch er sich selbst eingestehen muss, was ich gerade gesagt habe. Ich sehe wie er wieder seine Hand hebt, um eine verirrte Strähne an ihren Platz zu weisen, doch ich komme ihm zuvor. Ich kann seine Berührung im Moment nicht ertragen. „Wie sollte der Vogel das wissen?", frage ich erneut etwas drängender. Doch ich sehe ihm an, dass er mir keine Antwort darauf geben wird. Es folgen einige Minuten der Stille in der wir uns einfach nur anstarren.
„Vertraust du mir?", fragt er und durchbricht den Moment, der stillen Konfrontation. Vertrauen? Wie sollte ich ihm vertrauen können? Innerlich höre ich mein Verstand Ja rufen. Doch ich blicke ihm nur mit leeren Augen entgegen. Ich habe keine Kraft mehr, dieselben Fragen zu stellen. Nicht mehr die Stärke hinter seine Fassade blicken zu wollen. Nicht mehr die Motivation mehr zu sehen, als das alles hier ist. Gefangenschaft. Meine Kraft gilt der Flucht; meine Stärke einem Plan. Raus aus dem Palast und zurück nach Merah.
Als die Türe vom Balkon geöffnet wird, werden wir beide aus dem intensiven Blickkontakt gerissen. Erschrocken drehen wir uns zu dem Mann, der auf den Balkon tritt. Ein Wachmann. Tal. Kurz geht mein Blick zu Kian, der ebenfalls erschrocken zu dem Wachmann schaut und ihn feindselig mustert.
„Eure Hoheit." Er verbeugt sich kurz vor Leander. „Sie muss zurück auf das Zimmer", sagt der Wachmann knapp mit dem Blick auf mir. Die Worte treffen mich härter, als erwarte. Natürlich wusste ich, dass ich zurückmuss, doch mein Blick geht zu dem magischen Rohr. Ich habe gehofft noch ein paar Minuten im Nachthimmel zu schweben.
„Keine Angst, das Fernrohr gehört jetzt dir", sagt Leander, als er meinen Blick entdeckt. „Aber wir sollten wahrscheinlich wirklich zurück." Er wirkt bedrückt, doch ich kann nicht einschätzen ob wegen unseres Gespräches oder dem Ende des Abends. Schnell springt er auf die Beine. Ich folge ihm, hake mich aber bei Kian ein. Ich spüre sofort, dass die letzten Wunden seiner Folter heilen und ich meinen alten Freund wiederhabe.
Zurück im Zimmer wirken Kians Bewegung leichter; sein Gesicht fröhlicher und sein Gemüt höher. So habe ich meinen Freund schon lange nicht mehr gesehen. Der kurze Ausflug außerhalb dieser vier Mauern tat ihm besser als erwartet.
„Was ist?", fragt er verwirrt, als er meine Beobachtung bemerkt.
„Du wirkst glücklich", sage ich schulterzuckend. „Das habe ich vermisst", füge ich lächelnd hinzu.
„Das musst gerade du sagen", sagt er lachend. Er lacht. So lange habe ich ihn nicht mehr lachen hören und die Wärme steigt wieder in mir auf.
„Was meinst du?" Irgendwie erinnert mich das Gespräch an Rosalee. Sie hatte dasselbe funkeln in den Augen, wie Kian gerade. Dasselbe Grinsen.
„Leander", sagt er und sein rechter Mundwinkel und Augenbraue gehen in die höher.
„Was ist mit ihm?" Kians Lächeln wird größer. Da ist es. Das ist genau derselbe Ausdruck, wie Rosalee wenn sie über mich und ... nicht jetzt. Ich kann nicht über ihn nachdenken.
„Dir ist bewusst, dass der komplett von dir besessen ist. Keine Sekunde hat er dich aus den Augen gelassen, während du durch das Fernrohr geschaut hast", amüsiert er sich. Doch seine Worte sticheln mich nicht so, wie damals Rosalees. Vielleicht, weil ich nicht dasselbe fühle oder weil ich mich einfach freue meinen Freund wiederzuhaben.
„Eifersüchtig?", stichele ich ihn deshalb und kassiere ein Kissen ins Gesicht. Nachdem wir die Kissenschlacht beenden, gehen wir beide zum ersten Mal mit einem Lächeln schlafen. Kian lachte wieder, jubelte mein Verstand.
***
Die nächsten zwei Tage weigere ich mich noch, das Zimmer für die Mahlzeiten zu verlassen. Aber gehe mit Leander und auch Kian jeden Abend auf das Dach. Die Gespräch bleiben die Tage aus, nur Leanders Blick liegt schwer auf mir. Der Frieden, der mir während des Tags geraubt wird, kommt am Abend zu mir zurück. Kian und ich haben immer noch keine Lösung wie wir vom Hafen weiterkommen. Der Rest unseres Planes nimmt endlich Gestalt an. Das einzige Problem sind die Wachmänner, die wieder nachts vor unsere Türe stehen. Um das Problem zu lösen, muss ich wieder das Vertrauen, der Brüder gewinnen und das schnell. Uns blieben nur noch knapp zwanzig Tage bis es zu spät ist.
***
Es kostet weitere fünf Tage, in denen ich die Mahlzeiten wieder mit den Brüdern einnehme und einzelne mini-Verabredungen bis nur noch ein Wachmann vor unsere Türe steht.
Als meine Mutter die inzwischen grünen Würgemal sieht, ist sie zuerst komplett außer sich und ich kann ihr ansehen wie sehr sie zu kämpfen hat nicht auf Beynon los zu gehen. Auch sie wirft ihm einige Vorwürfe an den Kopf. Doch nach ein paar strengen Worten von ihm, starrte sie ihn nur noch böse an. Wieder enttäuscht mich ihre Reaktion. Leander hat mit seinem Bruder gekämpft, um ihn von mir fernzuhalten. Selbst jetzt straft er ihn mit strengen Blicken und gemeinen Worte. Ich habe gehofft, dass auch meine Mutter sich etwas mehr für mich einsetzen würde. Liebt sie mich noch? Hat der Glauben, dass ich gestorben bin, die Bindung zwischen uns getrennt? Oder ist es das Geheimnis, das eine Mauer zwischen uns baut?
Die Freude, als ich meine Mutter das erste Mal lebendig wiedersah, war so atemberaubend und voller Freude, dass ich fürchtete zu platzen. Doch mit jedem Tag verschwand ein wenig dieser Freude. Keine neuen Glücksmomente befüllten die entstehende Leere und was bleibt ist Enttäuschung, Einsamkeit und das Verlangen nach dem ersten Tag, des wiedersehen.
„Woran denkst du?", höher ich Beynons Stimme während wir durch den Garten laufen. Das dritte Mal bereits. Irgendetwas hält ihn beschäftigt, weshalb er nur eine Stunde nach dem Mittagessen hat. Doch ich beschwere mich nicht. Mit meinem Fokus auf dem Fluchtplan fällt es mir immer schwieriger, gut Miene zum Spiel zu machen.
„Meine Mutter", sage ich ehrlich. Wenn ich das Vertrauen der Brüder gewinnen will, muss ich bestmögliches bei der Wahrheit bleiben. Beynon schaut mir kurz entgegen, fragt aber nicht weiter nach. Dann entsteht wieder eine Stille zwischen uns. Seit dem Vorfall mit seinem Vater ist es angespannter zwischen uns geworden. „Denkst du, sie ist froh, dass ich am Leben bin? Denkst du, sie liebt mich noch?", frage ich abwesend. Alles scheint mir besser, als die bedrückende Stille. Denn sie führt mich an Orte in meinen Gedanken, die ich nicht besuchen möchte.
„Wieso sollte sie nicht?", fragt er erschrocken, doch ich sehe ihm an, dass er meinen Verdacht versteht. Am Abend des Geburtstagsballs ist mir bereits aufgefallen, dass sein Verhältnis zu seiner Mutter distanziert ist. Sie hat ihn kaum eines Blickes gewürdigt und wenn dann war er distanzierte und ohne Liebe. Ich hatte als Kind eine engere Beziehung zu meinem Vater, er war mein Held. Trotzdem liebte ich meine Mutter.
Aufgrund der Wachmänner vor meiner Türe und den täglichen Besuchen auf dem Dach mit Leander, konnte ich schon lange den altern Alistair nicht mehr besuchen. Mir fällt auf, wie sehr ich die kurzen Besuche bei ihm genoss und wie sehr ich sie jetzt vermisse.
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Die Flucht (Merahs Fluch 2)
Fantasía!! Achtung Spoiler für alle die noch nicht Buch I (Die Auslese) gelesen haben!! Nicht nur kreisen die Bilder der zweiten Auslese in Emmelins Kopf und das merkwürdige Symbol auf ihrer Haut, sondern nun ist Beynon wieder da. Zu allem Übel mit einer Ar...