Kapitel 10a

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Die nächste Woche vergeht wie im Flug. Jeden Abend verbringe ich im Garten mit Leander. Manchmal schweigend und manchmal können wir nicht mehr aufhören zu reden. Meist über belangloses, aber stets lustiges und aufmunternd. Beynon lässt sich kaum noch blicken. Auch bei dem Essen meidet er meinen Blick. Die wenigen Verabredungen, zu denen er mich einlädt, sind oberflächlich und angespannt. Der selbstsichere Beynon ist mit der Ankunft seines Bruders verschwunden. Er ist immer etwas abwesend, wenn er bei mir ist. Als stünde plötzlich eine Mauer zwischen uns, die zuvor nicht dort war. Ich kann mir keinen Reim daraus machen, aber versuche es so hinzunehmen. Endlich fühlt sich mein Leben wieder freier an. Zwar werde ich immer noch beobachtet und darf nicht frei mit meiner Mutter reden, aber die Zeit mit Leander gibt mir das gewisse Etwas, dass ich brauchte, um den Tag zu überstehen.

Inzwischen geht es Kian besser. Zwar redet er kaum und wenn er etwas sagt, ist es meist einsilbig. Ich habe Hoffnung, dass ich meinen Freund bald zurückbekommen. Darüber, was ihm angetan wurde, spricht er nicht und jedes Mal, wenn ich es erwähne, scheint er sich wieder in sich zurückzuziehen, weshalb ich das Thema schließlich ganz meide. Er darf das Zimmer nicht verlassen, aber das macht ihm nichts aus. Oft finde ich ihn am Fenster vor, in die Ferne starrend. Auf meine Frage, ob er in den Garten möchte, verneint er jedes Mal.

Das leuchtende Symbol auf meinem Arm wächst täglich und der dicke Balken, um das Siegel, hat die Hälfte der Strecke erreicht. Ich bin mir nicht sicher, ob das Schließen des Kreises etwas Gutes oder schlechtes bedeutet. Oder vielleicht hat es keinerlei Bedeutung. Immer wieder versuche ich Informationen aus Leander zu bekommen. Entweder weiß er nichts oder ist sehr gut darin es zu vertuschen. Allerdings ist es mir nicht möglich, das Dilemma, was den Abend des Balles angeht, direkt anzusprechen. Da ich mir nicht sicher bin, mich dadurch noch mehr in Schwierigkeiten zu bringen. Den Grund für meinen Aufenthalt im Palast hinterfrage ich jedes Mal. Teilweise auch mehrfach. Doch Leander gelingt es jedes Mal, die Antwort darauf galant zu umgehen. Auch Beynon beantwortet die Fragen, der Murmel oder meiner Anwesenheit im Palast nicht. Um die beiden nicht zu misstrauisch werden zu lassen, belasse ich es meistens dann dabei. Doch die Fragen beginnen an meinem Verstand zu zerren.

Wieder zaubern Minerva und Zoya mich in ein hübsches Kleid. Ich habe aufgehört, mich gegen ihre Hilfe zu wehren. Um das Vertrauen der Brüder zu gewinnen, muss ich mich kooperativ zeigen. Wenig später sitze ich wieder am Essenstisch. Zum ersten Mal ist weder Beynon, noch Leander im Raum. Nur meine Mutter und der kleine Willy blicken mir entgegen, als ich in den Raum trete. Meine Mutter ist überrascht, aber auf eine ängstliche Weise.

„Mutter!", presse ich ihr freudig entgegen und falle ihr um den Arm. Willy spielt mit irgendeinem Spielzeug und beachtet mich nicht weiter. Liebevoll streicht sie ein paar der Strähnen hinter mein Ohr. Die Freude legt sich über die Angst, aber erreicht nicht ganz ihre Augen. Wovor hat sie Angst?

„Mutter, was hat das alles hier zu bedeuten? Wieso bist du hier? Warum ich? Was will der König denn von uns?" Die Fragen sprudeln nur so aus mir heraus. Die Augen meiner Mutter werden bei jeder Frage größer und ich sehe ihr an, dass der ganze Frageschwall etwas unerwartet kommt. Aber sie auch bedrückt. Weiß sie vielleicht nur so wenig wie ich? Befürchtet sie, die Antworten würden mir missfallen? Ich werde einfach nicht schlau aus der Angst, die ich in ihren Augen sehe. Kurz blickt sie zu Willy, der vertieft ist und nicht mit bekommt. Vielleicht hat sie Angst vor Willy zu sprechen? Angst, ihm seine Unschuld zu rauben?

„Meine liebe Emmelin. Es tut mir alles so leid. Ich wünschte, ich könnte dir all deine Fragen beantworten. Aber nur der König weiß, was in seinem Kopf vorgeht. Wir haben nicht die Zeit, mein Schatz. Jeden Moment kommt Beynon und Leander." Die letzten Tage konnte ich ihr Misstrauen gegenüber Leander sehen und auch jetzt, wie sie seinen Namen ausspricht, klingt, als fürchte sie ihn mehr als Beynon. Allerdings steht ihr Misstrauen im Kontrast, zu dem, was ich erlebt habe.

Noch einmal streicht sie mir liebevoll übers Gesicht. Ich sehe ihr an, dass sie mehr weiß als sie zugibt. Die Angst in ihren Augen gilt also Leander und Beynon, schlussfolgere ich aus ihrer Antwort. Immer noch streicht sie mir liebevoll durchs Haar und ich kann spüren wie sie leicht zittert.

„Wir müssen hier weg. Zurück nach Hause. Du, Willy, Ki-", bevor ich weiter sprechen kann, unterbricht sie mich. Ihre Hand stoppt in der Bewegung und spannt sich an.

„Schatz." Ihr Blick wird besorgt und ernst. „Versprich mir, dass du nichts Dummes machst. Der König ist kein geduldiger Mensch und sehr nachtragend. Wenn er dich erwischt..." Angst blitzt in ihren Augen auf. Dieses Mal nicht der Hauch von Angst, den ich zuvor beobachtet habe, sondern wahre pure Furcht. Ich sehe wie sie sich ein Horrorszenario ausmalt und ihre Pupillen weiten sich. Sie nimmt mein Gesicht in ihre Hände, die erneut angefangen haben zu zittern.

„Emmelin! Versprich mir, dass du nichts unternimmst." Sie schaut mir ernst in die Augen. Es gibt keinen Zweifel daran, wie wichtig ihr das ist. Kann ich versprechen, nicht nach einem Ausweg zu suchen? Versprechen mich einfach der Tyrannei dieses Königshaus zu beugen? „Versprich es mir!" Ihre Stimme wird ernst und mit ihr verfliegen meine Gedanken. Ich höre wie die Zimmertüre aufgeht, doch meine Mutter lässt nicht von mir ab. Ihr Blick wird bohrender, ungeduldiger und fordernder.

„Versprochen", sage ich schnell und sie zieht mich zu einer erneuten Umarmung. „Uns passiert schon nichts, solange wir uns an die Regeln halten, Schatz", flüstert sie mir ins Ohr und lässt von mir ab. Mein Blick geht zu Beynon, der verwundert durch die Türe tritt.

„Wo ist Leander?" Die Verwunderung wird durch Wut ersetzt und er ballt seine Fäuste. Wie aufs Stichwort stolpert Leander etwas außer Puste in den Raum.

„Wo warst du?", fragt Beynon. Er dreht sich zu seinem Bruder und mir somit den Rücken.

„Beschäftigt", antwortet dieser belustigt und setzt sich auf seinen üblichen Platz. Beynons Rücken ist zu seinem Bruder und mir gerichtet und mein Blick geht zu Leander. Dieser strahlt mir entgegen, wirft einen kurzen Blick zu meiner Mutter und zwinkert mir zu. Absicht? Wollte er mir ermöglichen, einen kurzen Moment mit meiner Mutter zu verbringen? Der Gedanke zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht und ich nicke ihm leicht zu. Jeden Tag mag ich ihn mehr und mehr und sein Drang gegen seinen Bruder zu rebellieren. Als Beynon sich zu uns umdreht, versteift sich mein Blick. Ich will nicht, dass er mir etwas vom Gesicht ablesen kann. Beynons Ärger legt sich nur mäßig während des Essens, aber es gelingt ihm trotzdem mich anzulächeln, was mich verwirrt.

„Emmelin, ich würde heute gerne einen Ausflug mit dir machen. Hättest du Lust?" Er wirkt aufgeregt und aufrichtig. Doch der Gedanke, mit ihm alleine zu sein, liegt mir immer noch schwer im Magen. Warum fragt er eigentlich immer? Es ist nicht so als hätte ich eine Wahl. Er bemerkt mein Zögern und ich spüre den Blick meiner Mutter und Leander auf mir. Die Situation wird angespannt und ich fühle wie meine Hände beginnen zu schwitzen.

„Einen Ausflug, außerhalb der Palastmauern", verkündigt Beynon fröhlich in der Hoffnung meine Meinung zu beeinflussen. Und es gelingt ihm. Die letzten drei Wochen in diesem Palast, wenn auch riesig, fühlten sich an wie ein kleiner Käfig, aus dem ich nicht entrinnen kann. Kurz geht mein Blick zu Leander. Ich bin mir nicht sicher, weshalb. Überraschung steht in seinen Augen. Er weiß nichts von einem Ausflug. Und sehe ich auch so etwas wie Eifersucht? Raus aus den Palastmauern, jubelt mein Verstand.

„Gerne", antworte ich beinah glücklich und zum ersten Mal meine ich es. Zum ersten Mal nehme ich eine Verabredung freiwillig an. Mir ist es egal, wer mich begleitet, solange ich aus diesem Palast austreten kann. Mein Blick gleitet kurz zu meiner Mutter, deren Augen mich gefangen halten. Du hast es versprochen, denk daran, sagen sie. Ich lächle sie an, um ihr zu versichern, dass ich nichts Unüberlegtes tun würde.

Denkt sie wirklich, ich würde sie zurücklassen? Sie und Willy und Kian? Natürlich bietet mir eine Verabredung außerhalb des Palastes eine außergewöhnliche Möglichkeit. Aber ohne meine Familie würde ich niemals gehen. Das krampfhaft Hängen an einem Fluchtplan kostet mich nicht nur schlaflose Nächte, aber auch die wenigen glücklich Momente, die ich inzwischen habe. Ich bin noch weit davon entfernt, komplett aufzugeben. Eine Flucht wird stattfinden, denn ich werde Beynon nicht heiraten.

Die Flucht (Merahs Fluch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt