„Keine Sorge, Mädchen. Ich verrate schon nichts." Erleichtert atme ich auf. Der Blick des jungen Mannes, Mitte-zwanzig, huscht kurz über mich und eine seiner Augenbrauen schießt in die Höhe.
„Schickes Outfit", kommentiert er belustigt. Es gelingt ihm mir ein Lachen zu entlocken. Ganz kurz. Nur so lange bis ich mir meiner Situation wieder bewusst werde. Langsam legt sich die Anspannung, aber die Angst bleibt. Mir sind die Worte abhandengekommen und ich stehe wie eine verrückt vor ihm.
„Du bist das Mädchen, des Möchtegern Prinzen Beynon, oder?" Die Frage bringt mich endgültig durcheinander. Möchtegern Prinz, innerlich muss ich lachen. Bis jetzt hat niemand den Mut auch nur etwas gegen den Thronerben zu sagen, geschweige denn so etwas. Der ist mir sympathisch, meldet sich mein Verstand. Ich muss Grinsen und auch mein gegenüber ziert ein breites Lachen.
„Das, was er dir antut, ist nicht richtig. Er ist ein Idiot." Bedauern ist in seiner Stimme hörbar und sofort wird er mir noch sympathischer. Ein Verbündeter, jubele ich innerlich. Immer noch starre ich ihm entgegen, unfähig ein Wort herauszubekommen.
„Kein Mädchen der vielen Worte, wie ich sehe", sagt er fröhlich und seine Heiterkeit ist ansteckend. „Du solltest trotzdem wieder auf dein Zimmer gehen, bevor dich noch jemand anderes erwischt." Zustimmend nicke ich und schau zu meiner Rechten und Linken. Ich habe mich tatsächlich verlaufen und weiß nicht, wo ich hin muss.
„Verlaufen?"
„Ja", sage ich mit etwas zitternder Stimme.
„Sie da, sie kann doch sprechen", bemerkt er erheitert und fährt fort. Er deutet auf eine Treppe am anderen Ende des Flurs und erklärt mir meinen Rückweg. Aufmerksam versuche ich mir die Beschreibung einzuprägen und mache einen Schritt in die Richtung. Plötzlich packt er mich sanft am Oberarm und ich dreh mich zu ihm um. „Pass auf, dass dich keiner sieht." Die Warnung ist überflüssig, aber trotzdem schmeichelt mir seine Besorgnis.
Mit der Beschreibung des Fremden, finde ich tatsächlich zurück auf mein Zimmer, ohne auf eine Menschenseele zu treffen. Erleichtert lehne ich mich an die verschlossene Türe und lasse mich an ihr herunterrutschen. Kian sitzt im Bett und blickt mich fragend an.
„Ich war spazieren", sage ich gespielt fröhlich. „Der Palast ist riesig. Beinah ein Irrgarten. Echt verrückt." Wie immer bekomme ich keine Reaktion, doch sein Blick ist weniger abwesend im Vergleich zu den anderen Tagen. Ich nehme das Tablett und stelle es zwischen mich und Kian auf das Bett. Schweigend lassen wir uns das Essen schmecken. Ich, gedanklich bei dem Fremden und seinen offenen Worten, und Kian irgendwo ganz weit weg.
Zum Mittagessen erscheinen Minerva und Zoya wieder und machen mich ansehnlich. Sie schauen mich erschrocken an, als sie mich in Kians Kleider sehen. Unterdrücken sich aber ein Kommentar. Schnell stecke ich in einem altrosa Kleid mit puffigen Ärmeln. Meine Haare zu einem hohen Dutt gebunden und mein Gesicht leicht geschminkt. Warum ich jedes Mal für das Essen schick gemacht werde, haben die beiden mir nicht beantwortet. Aber ich bin froh mich etwas mit jemand unterhalten zu können. Wenn auch nur kurz und oberflächlich.
Beynon holt mich heute persönlich ab und entschuldigt sich noch einmal wegen des Frühstücks. Beinah will ich mich bedanken, da ich so die Gelegenheit hatte mich im Palast frei zu bewegen, stoppe mich im letzten Moment aber noch.
Wir treten in den üblichen Essenssaal, aber eine weitere Person sitzt am Essenstisch. Der Fremde vom Gang sitzt mit meinem Bruder auf dem Schoß, neben meiner Mutter und lächelt mich an. Erschrocken bleibe ich stehen. Kurz folgt Beynon meinem Blick.
„Emmelin, das ist Leander Leonard I. Mein älterer Bruder und erster Thronerbe Evrems." Stellt er den jungen Mann vor. In seiner Stimme kann ich unterdrückte Wut heraushören und mir fällt seine angespannte Körperhaltung auf. Ich habe vergessen, dass Beynon einen älteren Bruder haben muss, da er selbst nur der zweite in der Thronfolge ist. Auch hat der König, Leander, vor einigen Tagen erwähnt. Ich habe nicht darauf geschlossen, dass es sich um einen Bruder handelt. „Er ist gestern Abend von einer Tour vom See wieder gekommen", erklärt er noch beiläufig, während er sich an den Tisch setzt.
„Das Outfit ist schon viel besser", sagt Leander mit einem Augenzwinkern an mich. Verwirrt schaut mich Beynon an, doch ich schenke ihm keine Beachtung. Sondern lächle nur.
„Leo, wie lange bleibst du hier?", fragt der kleine Willy, während er den jungen Mann anstrahlt. In seinen Augen sehe ich, dass er ihn anbetet, noch mehr als Beynon. Der Blick meiner Mutter ist strenger, misstrauischer als ich es von ihr gewohnt bin.
„Erstmal eine Weile, kleiner", sagt Leander und wuschelt dem Kleinen durchs Haar. Es erfüllt mich mit Freude zu sehen, dass Willy sich seiner Lage und den Umständen nicht bewusst ist.
Das Essen ist wieder köstlich. Ich nehme gerade einen zweiten Löffel Suppe, als Leander Stimme die Stille bricht. Inzwischen bin ich die stillen Mahlzeiten gewohnt und fahre erschrocken hoch.
„Emmelin, wie gefällt dir der Palast denn so?" Kurz huste ich, da ich mich verschluckt habe und schaue ihm verwirrt entgegen. Wird er mich verraten?
„Viel habe ich noch nicht gesehen. Aber das Zimmer, in dem ich den ganzen Tag sitze, ist ziemlich schön", entgegne ich ihm mit einem mahnenden Blick. Meine Antwort amüsiert und bedrückt ihn zugleich.
„Willst du etwa sagen, dass mein kleiner Bruder dich in dem Zimmer gefangen hält?" Er wirft Beynon einen missfallenden Blick zu, denn er kennt die Antwort bereits.
„Leander, du solltest dich nicht in Dinge einmischen, die dich nichts angehen", sagt Beynon mit einem strengen Blick an seinen Bruder. Sie tragen einen mentalen Gedankenkampf aus. Da auch Willem anwesend ist, hoffe, ich wird es nicht zu einer Szene kommen. Als sich Leanders Blick von dem seines Bruders wieder löst und zu mir trifft, atme ich erleichtert auf.
„Also ich würde sagen, dass wir das ändern sollten. Wenn du möchtest, führe ich dich ein bisschen herum, sodass du mehr als dein Zimmer siehst." Ich höre wie Beynon genervt neben mir schnaubt, doch bevor er etwas sagen kann, nicke ich begeistert.
„Das wäre sehr schön. In dem Zimmer bekomme ich sonst noch einen Lagerkollaps", scherze ich. Doch meine Worte sind nicht ganz so weit von der Wahrheit entfernt.
„Bruder, du solltest dir nicht die Mühe machen. Ich kann Emmelin auch herumführen", entgegnet Beynon etwas gereizt. Herausfordernd schaut er seinem Bruder in die Augen.
„Ach Brüderchen, keine Sorge. Etwas Abwechslung tut Emmelin sicher gut. Außerdem musst du sicher noch einiges mit Vater besprechen." Leander lächelt, doch sein Blick lässt keine Widerrede zu. Erleichtert über Beynons Resignation und das beflügelnde Gefühl, dass jemand auf meiner Seite ist, muss ich während des ganzen restlichen Essen grinsen. Am Ende schmerzen meine Muskeln und seit langem fühle ich wieder etwas Freiheit.
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Die Flucht (Merahs Fluch 2)
Fantasy!! Achtung Spoiler für alle die noch nicht Buch I (Die Auslese) gelesen haben!! Nicht nur kreisen die Bilder der zweiten Auslese in Emmelins Kopf und das merkwürdige Symbol auf ihrer Haut, sondern nun ist Beynon wieder da. Zu allem Übel mit einer Ar...