Kapitel 22a

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Drei Tage lass ich niemanden zu mir. Die Tür verriegelten wir von innen, sodass, selbst wenn sie sie von außen geöffnet wird, niemand hereinkommen kann. Ich antworte auf keinen von ihren flehenden Rufen und erlaubte nur das Essen durchgereicht wird, welches Kian entgegennimmt. Für sie wirkt es, als müsse ich mit dem erlebten klarkommen. Doch in Wirklichkeit arbeiteten wir härter denn je an einem Fluchtplan. Mit einem Limit von acht-und-zwanzig Tagen, von denen ich zwei Tage auf der Krankenstation lag, werden wir mehr denn je angefeuert.

Wir gehen über jede Möglichkeit. Jeden Weg den wir einschlagen könnten. Kian legte mir offen, dass er nicht, wie von mir vermutet, in Trance bei seinen Zeichnungen war. Nein, er lauschte den Zofen, die kommen, um das Zimmer zu säubern, beobachtet jede Bewegung außerhalb des Palastes, die er von unserem Zimmer erblicken kann und lauscht jeder Bewegung auf den Gängen.

So gelingt es uns den Beginn eines Planes zu schaffen. Aus dem Palast scheinen wir eine Möglichkeit gefunden zu haben. Kurz nach Mitternacht schlafen die meisten. Gegen drei Uhr früh kommt alle drei Tage eine Lieferung frischer Lebensmittel und ein Wachwechsel findet kurz bevor die Kutsche wieder herausfährt, statt. Nun haben wir einen Plan aus den Palastmauern. Doch unsere Sorge liegt darin, wie wir von hier zum Hafen finden. Doch das größte Problem ist, wie wir über die Weite des Ozeans kommen oder seinem Vater von uns zu berichten, um Hilfe zu schicken. Wir müssen aus dem Palast finden, bevor es zu spät ist und ich tatsächlich verheiratet werde.

***

Heute ist es zum ersten Mal Leander, der vor der Türe steht. Die ganzen Tage ist es immer nur Beynon oder Minerva gewesen. Ich höre wie er die Wachmänner wegschickt, welche erst protestieren, aber dann folgen. Seine Stimme klingt traurig und flehend, weshalb ich mich zwinge vor die geschlossene Türe zu stehen.

„Emmelin, hörst du mich?" Ich gebe ihm keine Antwort. Nehme einen tiefen Atemzug und lass mich neben der Türe auf den Boden sinken. Ich habe das Gefühl ihm etwas zu schulden. Er war es, der mich im letzten Moment gerettet hat. Der mich selbst am Krankenbett beschützt hat.

„Emmelin, bitte. Die Wachmänner sind weg", fleht er. „Hörst du mich?" Ich klopfe leicht zweimal gegen die Türe. Ich habe nicht die Willenskraft ihm mit Worten zu antworten. Meine Stimme, wenn auch inzwischen beinah kuriert, hat immer noch ein leichtes Kratzen von dem Vorfall.

„Emmelin, bist das du?" Die Verzweiflung weicht Freude. Wieder klopfe ich zweimal.

„Geht es dir gut? Das tut mir alles so leid." Er atmet schwer durch. „Es hätte nicht so weit kommen sollen. Mein Vater hat getrunken. Beynon hätte dich nicht mit ihm alleine lassen sollen." Ich höre wie seine Stimme näher an mich herantritt. Er muss sich ebenfalls an der Türe heruntergelassen haben.

„Emmelin, du musst aus dem Zimmer kommen. Bitte. Ich weiß du brauchst Zeit, aber wenn mein Vater davon mitbekommt ... bitte." Ich muss schwer schlucken. Wieso ist es dem König so wichtig, dass ich das Zimmer verlasse? Ist der Sinn einer Gefangenschaft nicht, dass die Person gefangen ist? Sollte ihm das nicht recht sein, mich hinter verschlossener Türe zu haben?

„Wieso?", sage ich leise und mit leicht rauer Stimme. „Wieso sollte ich?"

„Emmelin", ruft er freudig, doch auch Mitleid weht im Unterton. „Ich habe etwas für dich. Du musst die Türe öffnen." Höre ich ihn freudig rufen. Er springt auf die Beine und rüttelt kurz an der Türe.

„Emmelin, komm schon", sagt er streng, doch ich gebe ihm keine Antwort. Erneut atmet er tief durch.

„Kian kann mitkommen." Erschrocken schaue ich zu ihm. Kian hat das ganze Gespräch mit angehört und schaut mich mit großen Augen an. Kurz sehe ich ihm an, wie sehr ihn das Angebot auf etwas Freiheit lockt. Seine Augen blitzen freudig auf. Doch dann schüttelt er den Kopf. Er will nicht, dass ich etwas gegen meinen Willen tue, nur seinetwegen. Ich halte den Blickkontakt zu Kian und sehe wie viel Kraft es ihn kostet bei dem Angebot nicht durch die Türe zu rennen.

„Emmelin?", höre ich Leander wieder trauriger fragen.

„Wohin?", frage ich mit dem Blick immer noch auf Kian.

„Eine Überraschung, aber es wird dir gefallen."

„Ich mag keine Überraschungen", sage ich genervt und sehe Kians Mundwinkel nach oben gehen. Dasselbe habe ich auch schon einmal zu ihm gesagt.

„Es wird dir gefallen", antwortet Leander und dann wird es still.

„Kian darf wirklich mit?", frage ich um sicherzugehen und sehe wie Kian wieder den Kopf schüttelt. „Es ist schon okay", flüstere ich Kian zu, sodass Leander es nicht hören kann.

„Wenn du möchtest, dann ja", sagt Leander mit einem enttäuschten Unterton. Natürlich wäre es ihm lieber mit mir alleine zu sein, aber das will ich im Moment nicht. Obwohl er immer auf meiner Seite steht und mich vor Beynon in Schutz nimmt, löst er ein Unbehagen aus, das ich nicht ganz deuten kann. Langsam öffne ich die Türe und schaue in seine Augen. Kurz verzaubern sie mich. Dieses Saphir-blau, das so viel Hoffnung ausstrahlt und das grün-grau wie die Weite des Walds. Sein Lächeln wird größer, als er mich sieht. Als sein Blick auf meinen Hals trifft, versteift er sich wieder.

„Nehmt euch eine Jacke mit", sagt er schnell, als Kian hinter mich tritt. Mit Jacken folgen wir dem Thronerben und auf Anhieb erkenne ich den Weg.

„Das Dach?", frage ich überrascht und Leander dreht sich mit einem breiten Grinsen um. Ich spüre wie Kian sich neben mir anspannt. Vorfreude steigt in mir auf, bei dem Gedanken meine Sterne zu sehen.

Als wir durch die Türe treten, umhüllt mich die kühle wie eine Umarmung und für einen Moment fällt alles von mir ab. Mein Blick findet wieder zu Leander, der ein paar Schritte vor mir steht. Erst jetzt bemerke ich die Gerätschaft neben ihm.

„Was ist das?", will ich verwirrt über das komische Rohr neben ihm wissen. Kurz macht sich Verwirrung auf seinem Gesicht breit, aber dann wird die Vorfreude größer. Er winkt mich zu sich an die Balustrade. Kurz schaue ich zu Kian, der schon verträumt in den Himmel starrt und die erste Freiheit seit Wochen genießt.

„Schau hier durch", sagt Leander und deutet auf eine kleine Öffnung am Ende des Rohrs. Ich folgte seiner Anweisung. Einen Moment verschwimmt meine Sicht, doch dann wird alles ganz scharf. Mein Atem stockt. Bewunderung übernimmt mein ganzes Wesen. Jede Pore wird erfüllt von einer Begeisterung, die ich seit Kindheitstagen nicht mehr erlebt habe. Meine Sterne. Meinen geliebten Sternen so nah. So deutlich. So habe ich sie noch nie gesehen. Das Funkeln noch nie so deutlich beobachtet. Beinah als schwebe ich durch den Himmel. Schnell finde ich den Polarstern und die Sternbilder, die er formt.

Gefesselt von dem Anblick vergesse ich alles um mich herum. Meine ganzen Sorgen und Gedanken. Ich weiß nicht, wie lange ich durch das Rohr starre, doch irgendwann löse ich mich von dem Blick. Leander sitzt auf der Balustrade und seine Aufmerksamkeit gilt ganz mir. Bewunderung schwebt in seinem Gesicht. Kurz fühle ich mich unwohl, doch die Bewunderung über das Rohr übertönt das ungute Gefühl. Für einen Augenblick bemerkt er nicht, dass ich ihm entgegenblicke. Nachdem er blinzelt, steigt ihm eine leichte Röte ins Gesicht und er wendet seinen Blick von mir ab.

„Ich dachte mir, dass es dir gefällt", sagt er sanft. „Es hat eine Weile gedauert, bis ich das alte Ding aufgetrieben habe", erzählt er mit dem Blick an die Sterne. „Aber ich dachte, dir würde es gefallen, den Sternen näher, als je zuvor zu sein." Ein gewisser Stolz schwebt in seiner Stimme. Seine Mundwinkel steigen nach oben und die Sterne legen ein Glänzen in seine Augen.

„Wieso tust du das?", frage ich direkt. Sein Blick geht wieder zu mir. Verwirrt geht eine seine Augenbrauen in die Höhe.

„Was meinst du?"

„Wieso bist du nett zu mir? Ich bin eine Gefangene. Ich muss deinen Bruder heiraten. Ich werde täglich bedroht oder jemand den ich liebe. Wieso tust du das? Wieso bist du nett zu mir?", frage ich ruhiger als ich es mir zugetraut habe. Doch etwas in mir drängt mich diese Frage hinaus zu lassen. Wieder wendet Leander seinen Blick an die Sterne. Er atmet tief durch. Öffnet seinen Mund als wolle er etwas sagen, aber schließt ihn wieder.

Mein Blick geht zu Kian, der jetzt auf einem der Flechtkörbe sitzt. Die Augen geschlossen, aber sein innerer Frieden ist ihm ins Gesicht geschrieben. Er hätte nie gesagt, wie sehr er das hier braucht. Aber ich konnte es ihm ansehen. Konnte es spüren, auch wenn er es sich selbst nicht eingestehen wollte. Diese Ruhe, Erleichterung und Einstimmigkeit, die Kian ausstrahlt, zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht und legt auch mir einen inneren Frieden auf. Kurz geht mein Blick zurück zu Leander, doch auch er ist in Gedanken gefangen. Zum ersten Mal bedrückt mich die unbeantwortete Frage nicht. Sie schwebt nicht in meinen Gedanken und versklavt mich nicht.

Die Flucht (Merahs Fluch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt