Kapitel 6b

1.3K 114 14
                                    


Für die nächsten drei Tage wiederholt sich das Ganze. Beynon holt mich für die drei Mahlzeiten ab. Bevor wir zum Essenssaal schreiten, halten wir bei dem kleinen Gästezimmer, in dem jeden Tag ein frisches Kleid auf mich wartet. Mal ein grünes, dann ein blaues und ein gelbes. Jedes etwas anders, doch alle mit langen Ärmeln und einem hohen Ausschnitt.

Gemeinsam mit den drei verbringe ich still die Mahlzeiten. Während ich meine Mutter, meine Mutter Beynon, und Beynon mich, genauestens betrachtet. Obwohl ich mich über die Nähe zu meiner Familie freue, fühle ich mich Kilometer von ihnen entfernt. Wir können uns nicht offen unterhalten. Jede meiner Handlungen wird beobachtet.

Nur die Unterhaltungen mit dem kleinen Willy vor und nach den Mahlzeiten, die gerade einmal ein paar Minuten gehen, scheinen ehrlich. Die Fragen, die ich meiner Mutter stellen möchte, stapeln sich nach jeder Begegnung. Mit jedem Tag wird ihr Blick trauriger und abwesender. Ich kann nicht deuten, was diesen Gemüts-wechsel verursacht, doch ich spüre, dass sie nicht vor Beynon oder Willy darüber sprechen möchte. Da uns keine Möglichkeiten geboten werden alleine zu sprechen, bleibt diese Tatsache zwischen uns unausgesprochen und wirft noch mehr Fragen auf.

Glücklicherweise erfahre ich, dass Evrems König im Moment nicht anwesend ist, weshalb ich ihm noch nicht vorgeführt werde und Kian einfach in der Zelle gelassen wird. Inzwischen bekommt er jedoch Mahlzeiten.

***

Es ist der sechste Morgen und wie immer erscheint Beynon mit einer Fackel in der Hand in unserer Zelle. Automatisch stehe ich auf und gehe dem jungen Mann entgegen, der jedoch schaut mich an und schüttelt den Kopf.

„Kian", sagt er bissig und macht eine Kopfbewegung, die ihn auffordert, ihm zu folgen. Panisch drehe ich mich zu Kian um. Auch ihm ist der Schreck ins Gesicht geschrieben und er macht keine Anstalten sich von der Pritsche zu erheben.

„Wieso ich?", fragt er stattdessen verwirrt. Ich sehe wie Beynon seine Augen verdreht. Kurz darauf verlässt er das Zimmer und Kuno tritt ein. Streng blickt er zu Kian, der sich gefügig macht und dem Muskelprotz folgt.

„Ich komm bald wieder", flüstert er mir zu, bevor die Türe ins Schloss fällt. Das weißt du nicht, gebe ich in Gedanken zurück. Auf einmal fühle ich mich einsam, verlassen und traurig. Ungewiss was als Nächstes geschieht, setze ich mich auf die Pritsche, mit den Knien an mich gezogen, übermannt mich ein Zittern. Zum ersten Mal seit der Einführung fühle ich mich so klein, alleine und ängstlich. Die Dunkelheit, die nur von der kleinen flackernden Lampen abgehalten wird, wirkt auf einmal beängstigend.

Beruhig dich. Kian kommt wieder. Beynon bringt dich wieder zu deiner Familie. Keinen Grund für eine Panikattacke, fordert mein Verstand streng. Die Härte meines eigenen Verstandes und die Ungewissheit lässt Tränen in mir aufsteigen.

Als auch nach einer gefühlten Ewigkeit weder Beynon noch Kian zurückkommen, macht sich auch noch Furcht in mir breit. Was, wenn er Kian wieder verprügelt? Was, wenn Kian es dieses Mal nicht übersteht? Als ich Schritte vernehme, springe ich aufgeregt an die Gitter der Türe. Doch erkenne schnell, dass es sich nicht um eine mir bekannte Person handelt. Ein älterer, grimmiger Mann in einer Wächteruniform reicht mir ein halbes Laib-Brot und verschwindet ohne ein weiteres Wort.

Mein Magen hat schon vor einer geraumen Zeit begonnen laut zu grummeln, weshalb ich das Brot gierig verschlinge. Nach weiteren Stunden ist immer noch nichts von Kian zu sehen und langsam werden meine Augenlider immer schwerer. Doch meinen Anstrengungen fallen sie mir immer wieder zu und am Ende siegt die Müdigkeit und ich falle in einen tiefen Schlaf.

***

Ich bin mir nicht sicher wie viel Zeit vergeht. Anhand der Mahlzeiten, die immer wieder jemand anderes bringt, müssen es ungefähr vier Tage sein.

Kein Zeichen von Beynon oder Kian. Auf wiederholtes fragen, schreien und erfolglosen Ausbruch versuchen, erhalte ich keine Reaktionen. Stumm stellt ein Mann das Essen auf den Boden, wohlbedacht mich im Auge zu behalten. Speziell nachdem ich am zweiten Tag versuchte durch die Türe zu sprinten. Ich wurde nicht mehr zu meiner Familie gebracht.

Wie die Tage zuvor sitze ich auf der Pritsche. Zusammengekauert. Alleine. In Gedanken versunken. Manchmal blätterte ich durch das Notizbuch von Caspian. Inzwischen kenne ich jedes Wort auswendig. Habe jeden Fleck, Knick oder riss genauesten untersucht. Auch die Worte des Vertrages gehe ich immer wieder durch. Speziell die letzten Zeilen in der unbekannten Sprache. Komme aber zu keiner Lösung. Kian muss sicher leiden. Warum sagt mir niemand etwas? Wie lange geht das noch so?

Als die Türe erneut geöffnet wird, werde ich aus meinem Halbschlaf-zustand gerissen. Die letzten Tage habe ich keine Nacht mehr durchgeschlafen. Ein etwas schmächtiger, älterer Mann tritt ein und stellt eine Schüssel mit einem Haferschleim ähnlichem Inhalt neben mich auf die Pritsche.

„Ich muss mit Beynon sprechen, bitte", bettele ich den Mann an. In seinen Augen kann ich Mitleid aufblitzen sehen und ich schöpfe Hoffnung. „Bitte", setze ich noch einmal mit einer Dringlichkeit nach.

„Esse zuerst Mädchen. Du musst zu Kräften kommen, in wenigen Stunden wirst du ...", er stoppt abrupt, als ihm bewusst wird, dass er nicht mit mir besprechen darf. Bevor ich ihn noch einmal bettelnd ansehen kann, eilt er durch die Türe und verriegelt sie. Schnell springe ich auf. Meine müden Glieder schmerzen und ich komme bei der plötzlichen Bewegung ins Straucheln.

„Wo ist Kian?", schreie ich dem Mann verzweifelt zu. Ich sehe wie er sich kurz umdreht. Sein neutraler Blick wird bedrückt und triff mich wie ein Schlag in den Magen. Nein! Nein! Was haben sie mit ihm gemacht? Die schlimmsten Bilder schleichen sich in meine Gedanken. Kian blutüberströmt am Boden. Seine Augen weit aufgerissen, sein Brustkorb still. Ich sehe Kian neben Jayden am Boden liegen. Tot. Beide.

„Nein!", schreie ich verzweifelt auf und mein Schrei hallt an den Wänden wieder. Erschöpft vom Schlafmangel, Hunger und dem blanken Horror der mich überkommt, sacke ich in mir zusammen. Meine Knie schlagen feste auf den steinigen Boden, doch der Schmerz dringt nicht zu mir durch. Die Kälte lässt einer Gänsehaut über meinem Körper entstehen, doch ich spüre sie nicht. Schluchzend ziehe ich die Luft in mich ein. Tränen verschleiern meine Sicht.

Als nach ungewisser Zeit, die Türe unsanft gegen mich schlägt, werde ich aus der Trance gerissen. Es kann sich um Minuten, aber auch Stunden gehandelt haben.

„Was machst du hinter der Türe?", höre ich Beynon entsetzte Stimme. Beynon! Wie vom Blitz getroffen springe ich auf und beginne auf seine Brust einzuschlagen.

„Wie konntest du das tun?! Wie nur?! Was hat er dir getan?", schreie ich wie eine wilde Furie. In kürzester Zeit gelingt es ihm mein Arme zu ergreifen und meine Schläge abzuhalten.

„Was ist in dich gefahren?" Wahres Entsetzen ist in sein Gesicht geschrieben. Seinen blutunterlaufenen Augen zu urteilen, hat er selbst nicht so viel geschlafen.

„Mich? Was in mich gefahren ist? Du hast Kian auf dem Gewissen, du elender ...", fauche ich ihn Wut geladen an, doch er unterbricht mich.

„Ich habe niemanden auf dem Gewissen. Heute Morgen war der Prinz noch am Leben. Man mag bezweifeln, ob das von Vorteil ist, doch auf dem Gewissen habe ich ihn nicht. Also beruhig dich wieder!" Ich ignoriere seinen rauen Ton. Kian lebt! Feier ihr innerlich.

„Also hast du ihn nicht umgebracht?", will ich noch einmal bestätigend wissen.

„Wieso sollte ich mir die Mühe machen, ihn hierher zu bringen, nur um ihn zu töten?" Seine Frage ist platonisch, doch ich nicke trotzdem zur Bestätigung. Mit der Erleichterung legt sich auch die Wut in mir und meine Gedanken ordnen sich wieder.

„Wo ist er?", will ich etwas ruhiger wissen.

„Das ist erst einmal nicht von belangen. Wir haben wichtigeres zu erledigen."

Beynon führt mich in das kleine Zimmer, in dem ich mich fertig gemacht habe. Weitere Fragen, hat er auf dem Weg ignoriert. Mit jedem Schritt wird er angespannter und in seine Gedanken gezogen.

Nachdem ich mich wieder frisch mache und ein neues Kleid überziehe, zerrt mich Beynon am Arm die Gänge entlang. Mehrmals frage ich nach Kian, erhalte jedoch keine Antwort. Schnell wird mir bewusst, dass wir nicht den üblichen Weg zu dem Speisesaal gehen.

Die Flucht (Merahs Fluch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt